Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Ruth Schimanowski


百闻不如一见 „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“

Ich liebe puzzeln. Mein Vater und ich haben in meiner Kindheit tagelang den Wohnzimmertisch blockiert. In höchster Konzentration haben wir Stunde um Stunde die Puzzleteile sortiert, verglichen und zusammengesetzt. Am schwierigsten waren die Puzzle, von denen wir die Vorlagen verloren hatten.

Kein Wunder also, dass ich mich von klein auf für China interessiert habe: Ein Buch mit sieben Siegeln oder eben ein Puzzle mit Tausenden von Teilen. Ich selbst werde nächstes Jahr 50 Jahre alt, bin damit fast so alt wie diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China, und ich habe die Hälfte meines Lebens in China verbracht. Meinen hessischen Ehemann habe ich in Peking kennengelernt. Unsere Kinder sind in Peking geboren und aufgewachsen. Und ich bin immer noch am Puzzeln: Jeden Tag füge ich meinem Chinabild ein neues Teilchen hinzu.

Der Vergleich des Puzzles gilt für mich auch in Hinblick auf die chinesische Sprache. Mich hat die Andersartigkeit des Chinesischen fasziniert. Ich bin als Tochter eines deutschen Missionars Ende der 1970er bis Ende der 1980er Jahre in Tansania aufgewachsen. Kiswahili, Englisch, Schwedisch, Französisch – diese Sprachen habe ich in meinem schulischen und privaten Umfeld von Kindheit an gelernt. Aber Chinesisch? Die Schriftzeichen, der Satzbau, die Beschreibung von Ereignissen, das Darlegen von Argumenten oder Gefühlen, alles wirkte wie ein riesiges Puzzle auf mich. Zum Glück eines mit Vorlage. Um Chinesisch zu lernen, habe ich immer versucht, Parallelen zu finden. Die Sprichwörter –一举两得 Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen oder 说曹操曹操就到 Wenn man vom Teufel spricht… – konnte ich mir deswegen so gut merken, weil wir es im Deutschen ähnlich sagen. Man wirft im Chinesischen zwar keine Perlen vor die Säue, spielt aber die Zither für das Rind.

求同存异 „Gemeinsamkeiten suchen und Unterschiede bestehen lassen“

Wenn ich mich mit den Themen Gleichberechtigung oder Kindererziehung beschäftigt habe, wurden beim näheren Kennenlernen aus vermeintlichen Gemeinsamkeiten doch Unterschiede und andersherum. So fand ich es als Physikerin ermutigend, dass es in China so viele Ingenieurinnen gibt. Oder weibliche Finanzvorstände in großen Firmen. Und dass Chinesinnen schon kurze Zeit nach der Geburt wieder arbeiten gehen. Aber wenn man genauer hinschaut, dann gibt es für Frauen in China ganz ähnliche Probleme dabei, erfolgreich Karriere zu machen und Führungspositionen zu bekleiden, wie in Deutschland. Ich fand es rührend und praktisch, dass sich in China größtenteils die Großeltern um die Enkelkinder kümmern. Bis mir eine chinesische Freundin erklärte, dass es oft keine freie Entscheidung, sondern wirtschaftliche Not ist, die zu diesem gesellschaftlichen Phänomen führt und dass sie sich viel lieber selbst um ihre Kinder kümmern würde.

Datierbare historische und politische Ereignisse verstehe ich als Rahmen, innerhalb dessen ich mein China-Puzzle baue. Sie prägen sich mir besonders gut ein, wenn ich mir Orte und Gebäude angeschaut habe. Auf meinen seit Corona leider viel zu seltenen Reisen in die Provinzen gibt es stets AHA-Effekte. Ich hatte im Geschichtsunterricht in den deutschen Schulen nur sehr wenig über die Geschichte Chinas gelernt. Und so war ich beim Besuch in der Yunnan‘er Militärakademie von meinen gewaltigen Bildungslücken überrascht, was den Umbau der kaiserlichen Armee Ende des 19. Jahrhundert betrifft und welche Rolle dabei Deutschland und Japan spielten. Wichtige Randstücke.

鹤立鸡群 „Herausragende Persönlichkeiten“

Aufgrund meines Lebenslaufes ist es nicht verwunderlich, dass ich menschliche Begegnungen und persönliche Erfahrungen für das wichtigste Element in den deutsch-chinesischen Beziehungen halte. Wenn ich mich umschaue, wer in den Firmen, Universitäten und Institutionen die deutsch-chinesische Zusammenarbeit gestaltet, dann sind dies oft Personen, die als junge Menschen im jeweils anderen Land studiert und gearbeitet haben. Förderorganisationen wie dem DAAD mit seinen zahlreichen Stipendien und Programmen kommen dabei eine zentrale Bedeutung zu.

Es ist ein Grundgedanke der Außenwissenschaftspolitik, dass akademischer Austausch ein Wegbereiter für engere Beziehungen zweier Staaten sein kann. Ein interessantes und in Deutschland wenig bekanntes Beispiel dafür ist Qiao Guanhua: Als einer der ersten chinesischen DAAD-Stipendiaten promovierte er von 1935 bis 1937 an der Universität Tübingen.

Rund vierzig Jahre später ebnete er 1972 als chinesischer Vize-Außenminister gemeinsam mit Walter Scheel, dem damaligen deutschen Außenminister, der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik den Weg. Er beeindruckte Gesprächspartner mit seinem Deutsch und Kenntnissen über Kant, Hegel und Spinoza. Ein zweiter DAAD-Stipendiat des Jahres 1935 war der spätere Vizepräsident der Peking Universität Ji Xianlin.Er lebte bis 1945 in Deutschland und schrieb darüber das Buch „10 Jahre in Deutschland – 留德十年“. Auch aus der jüngeren Geschichte gibt es mit Liu Jinghui eine bekannte DAAD-Alumna. Die Germanistin und an der Humboldt-Universität promovierte Pädagogin hat den China Scholarship Council aufgebaut und viele Jahre als Generalsekretärin geleitet.

人山人海 „Eine Flut von Menschen“

Die Statistik zeigt, wie wichtig gute diplomatische Beziehungen sind. Die Zahlen des akademischen Austausches sind in den vergangenen Jahrzehnten rasant gestiegen: Von 4.500 chinesischen Studierenden in Deutschland im Jahr 1996 auf über 40.000 im Jahr 2022. Entsprechend umfangreich ist das Netzwerk der Deutschland-Alumni in China und die Kenntnis in China über Deutschland. Dass diese Zahlen aber keine Selbstverständlichkeit sind, zeigt die traurige Erfahrung aus der Pandemie. Die Zahl der deutschen Studierenden in China, die vom chinesischen Bildungsministerium 2019 mit über 8.000 angegeben wurde, ist 2022 auf einige Handvoll mir bekannter deutscher Studierender gefallen. In Deutschland geht mittlerweile die Sorge um, dass wir in Zukunft ohne ausreichende China-Expertise die deutsch-chinesischen Beziehungen gestalten müssen.

Natürlich sind nicht nur individuelle Förderungen wichtig. Auch institutionelle Kooperationen, gemeinsame Zentren und Fakultäten werden benötigt, um mehr Breitenwirkung und Strahlkraft zu erzeugen. Gemeinsame Studien- und Doppelabschlussprogramme haben viele Vorteile. Man studiert einen Großteil der Zeit im Heimatland, macht aber internationale Erfahrung; die Kurse, die man im Ausland besucht, sind auf die Kurse an der Heimathochschule abgestimmt; man wird in der Regel an der Gasthochschule besser betreut und so gibt es in diesen Programmen viel weniger Studienabbrüche als bei individueller Mobilität. Das größte und sichtbarste deutsche Projekt in China ist die Chinesisch-Deutsche Hochschule (CDH) an der Tongji-Universität. Viele der besten technischen Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften Deutschlands sind daran beteiligt. Die Tongji-Universität selbst geht auf eine deutsche Gründung im Jahr 1907 zurück. Ihr späterer Präsident Li Guohao hat in den 1940er Jahren in Darmstadt promoviert. Er knüpft Ende der 1970er Jahre mit der Gründung eines Deutschkollegs an die Verbindung zu Deutschland an. Eine Besonderheit der CDH und ihrer Teilinstitutionen ist die praxisorientierte Ausbildung und das außerordentliche Engagement der deutschen und inzwischen auch der chinesischen Wirtschaft. Die Unternehmen sponsern Lehrstühle, bieten Praktikumsplätze an und organisieren Seminare. Auch für deutsche Studierende sind die CDH und die dort angebotenen Studiengänge und Kurse sehr interessant.

自食其果 „Man erntet, was man sät“

Große und langfristige Projekte brauchen viel Energie und viel Kommunikation. Zuständige Personen wechseln auf beiden Seiten. Das politische Umfeld und die Hochschulgesetze ändern sich. Ständig werden Anpassungen notwendig. Gleichzeitig müssen die gemeinsamen Interessen immer neu austariert werden. Das erfordert Geduld, Offenheit und ein Verständnis für den Partner. Wichtig ist aber auch, dass diese Projekte eine Zukunftsvision haben und die Motivation sich weiterzuentwickeln.

Manchmal habe ich das Gefühl, mir ist für mein China-Puzzle die Vorlage abhandengekommen. An manchen Stellen zeigen sich nach 25 Jahren zudem Ermüdungserscheinungen. Ich finde nicht mehr die passenden Stücke, wahrscheinlich brauche ich eine neue Brille. Wie manche akademische Kooperationen, die angesichts der veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen neu justiert werden müssen, muss ich vielleicht meinen Blickwinkel ändern. So oder so ist das Allerwichtigste, eine neue Generation von Brückenbauerinnen und Brückenbauern auszubilden. Denn die Zusammenarbeit in der Wissenschaft ist in Zeiten des Klimawandels und anderer Menschheitsfragen unerlässlich.

Wir brauchen China und China braucht uns. Als Partner.


Über die Autorin



Nach dem Abitur hat Ruth Schimanowski als ökumenische Freiwillige ein Jahr in Taiwan verbracht. Sie kehrte 1993 über Festlandchina per Eisenbahn nach Deutschland zurück und absolvierte ein Physikstudium an der FU Berlin.

1999 kam sie mit dem DAAD „Sprache und Praxis“ Stipendium wieder nach China und arbeitet seitdem ununterbrochen dort. Im Januar 2020 übernahm Ruth Schimanowski die Leitung der DAAD-Außenstelle in Peking.

Sie hat zuvor das Verbindungsbüro von Misereor in China geleitet und war Geschäftsführerin des German Centre Beijing.