Prof. Dr. Ralph Weber
Zum diplomatischen Umgang mit grundlegender politischer Differenz
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen zwei Staaten ist ein historisch bedeutsames Ereignis. Besonders runde Jahrestage werden daher von den jeweiligen Regierungen und den Außenministerien feierlich und ritualisiert, d.h. entlang festgelegter diplomatischer Gepflogenheiten, begangen. Sie werden meist auch im übertragenen Sinne "diplomatisch" begangen. Man versucht Misstöne zu vermeiden, lobt nach Möglichkeit das derzeitige Verhältnis und erzählt sich gegenseitig eine für den Anlass entsprechend zurechtgerückte Geschichte der bisherigen Beziehungen. Für all das gibt es gute Gründe. Die Abwesenheit diplomatischer Beziehungen wird gemeinhin als ungünstiger, potentiell gar gefährlicher Zustand gewertet, der Abbruch von Beziehungen als Eskalation und ultima ratio verstanden.
Vor zwei Jahren durfte die Schweizerische Eidgenossenschaft den 70. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik China feiern. Dieses Jahr begehen Deutschland und China den 50. Jahrestag. Wie es liberalen Demokratien eigen ist, bietet ein solcher Anlass auch für zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft, der Medien, der Universitäten und der Wirtschaft eine Gelegenheit, sich zu äußern, entsprechende Veranstaltungen zu organisieren und allenfalls auch Aspekte anzusprechen, die bei den offiziellen Feierlichkeiten unausgesprochen bleiben. Je nach Interessen und Agenden verhalten sich auch diese Akteure eher "diplomatisch", oder dann in bewusster Abgrenzung dezidiert kritisch. Dieser Pluralismus ist in gewisser Hinsicht gewollt. Er ist für sich genommen Demokratien zuträglich. Nur finden diese Äußerungen und Handlungen keineswegs im innerstaatlichen Vakuum statt, sondern stehen selbst im Kraftfeld jeglicher Einflussversuche verschiedenster Akteure. Die Tatsache, dass die Volksrepublik China keine liberale Demokratie, sondern, wie in der Staatsverfassung im ersten Artikel festgehalten, "ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes" ist und im Land eine weiterhin weitgehend leninistisch organisierte Kommunistische Partei mit entsprechenden Ressourcen für politische Aktivitäten im Ausland herrscht, verkompliziert die Angelegenheit zusätzlich erheblich.
Die derzeitige weltpolitische Lage mit dem Angriffskrieg der Russischen Föderation in der Ukraine und die zahlreichen Spannungen mit der Volksrepublik China in deren Umgang mit Hongkong, mit tibetischen, uigurischen und anderen Minderheiten, mit Dissidenten, Menschenrechtsanwälten oder Journalisten, aber auch das als neues Selbstbewusstsein apostrophierte weltweite Gebaren und Versuche der politischen Einflussnahme im Ausland, auch hier in Europa und in Deutschland, haben die Diskussionen zu einer glaubwürdig wertebasierten Außenpolitik neu befeuert. Im Kern drehen sich einige dieser Diskussionen um ein grundsätzliches Dilemma in der Auseinandersetzung mit autoritären Regimen, das an sich nicht neu ist, das auch nie verschwunden war, welches man aber lange – mit Blick auf China sicherlich auch durch die Devise von "Wandel durch Handel" begünstigt – vernachlässigen konnte. Das Dilemma lässt sich etwa so formulieren: Zunächst bedeuten diplomatische Beziehungen nicht mehr als eine formelle Anerkennung, die Anerkennung eines Staates durch einen anderen. Durch die gelebte Praxis der Beziehungen entstehen notwendigerweise und durchaus erwünscht (von der Diplomatie teils auch explizit zu befördernde) Interessen, für die jede Verschlechterung der Beziehungen einen Schaden bedeutet. Hieraus entspringt die Gefahr, dass über Zeit der formellen eine materielle Anerkennung folgt, sodass die Frage gestellt werden darf: Wie setzt man sich als liberale Demokratie und als in ihr eingebetteter Akteur in ein Verhältnis mit einem autoritären Regime, ohne durch das eigene Tun und Sagen die fundamental trennende, normative politische Differenz zu normalisieren und damit einzuebnen, ja, allenfalls damit sogar die eigene Wertebasis letztlich zu unterminieren?
Natürlich hat die Dringlichkeit der Sache mit den vorhandenen oder auch nur wahrgenommenen Machtverhältnissen zu tun. Solange man mit der Volksrepublik China unter der Erwartung von politischer Reform und einem Wandel hin zur Demokratie interagierte, war die Überwindung der politischen Differenz ja nur eine Frage der Zeit. Nachdem nun aber der Wandel ausgeblieben und stattdessen die Volksrepublik China und unter Xi Jinping auch die Kommunistische Partei erstarkt sind und öfters auch ihre Muskeln spielen lassen, steht die politische Differenz wieder viel deutlicher und viel unüberbrückbarer im Zentrum. Dazu kommt, dass in europäischen Gesellschaften intern autoritäre Bewegungen an Gewicht gewonnen haben, welche spaltend wirken und die Wertebasis liberaler Demokratien grundlegend zur Disposition stellen. Demokratisch legitimierte Regierungen werden so als "Diktaturen" verschrien, während autoritäre Regime zur überlegenen "demokratischen" Alternative verklärt werden.
Was könnte man nun tun, um als liberale Demokratie im materiell gelebten Umgang mit einem autoritären Regime wie der Volksrepublik China jenseits der Formalität diplomatischer Beziehungen die eigene Wertebasis zu verteidigen? Insoweit die Machtverhältnisse bei der Dringlichkeit, wie sich das Problem der politischen Differenz stellt, eine Rolle spielen, möchte man seine eigene Machtposition selbstverständlich stärken. Das ist aber nicht nur einfacher gesagt als getan, sondern es bleibt auch fraglich, ob damit das grundlegende Problem der Einebnung und der möglichen Unterminierung der Wertebasis behoben würde, nur, weil dann abermals wieder keine Dringlichkeit mehr vorherrschte. Die Volksrepublik China hat ihre Macht ja gerade in Zeiten des Wandels durch Handel gewonnen. Eine Steigerung der eigenen Macht mag aber natürlich aus vielen anderen Gründen wünschenswert sein.
Eine einfach umsetzbare Maßnahme betrifft die Wortwahl im Umgang mit der Volksrepublik China. Die eigene Wertebasis kann und soll deutlich gemacht werden. Nebst dem Einstehen für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gilt es aber auch subtilere Ebenen der Kommunikation zu beachten. Insbesondere zu vermeiden gilt es Einebnungsvokabular, also Worte, auf die sich beide Seiten in scheinbarem Konsens verständigen können. Zum Beispiel sollte man nicht, wie dies ein Mitglied der Schweizerischen Regierung getan hat, von «Partizipation der Bevölkerung» sprechen, wenn man damit die halb-direkte Demokratie auf Schweizer Seite und leninistischen demokratischen Zentralismus auf Seite der Volksrepublik China meint. Es ist nicht förderlich von «Menschenwürde» zu sprechen, wenn man eigentlich die «Menschenrechte» meint, und angesichts der chinesischen Versuche, den Sinn der Menschenrechte im Kern auf den Kopf zu stellen, müsste man auch hier ausdifferenzieren und genauer formulieren. Adäquater ist es, in Interaktionen wo immer möglich die politische Differenz anzeigende, unterschiedliche Worte zu verwenden.
Es geht darum, falschen Äquivalenten vorzubeugen. Die All-China Federation of Industry and Commerce (ACFIC, 中华全国工商业联合会) ist etwa keineswegs ein Pendant des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), insoweit ersteres direkt dem Einheitsfrontarbeitsdepartement der Kommunistischen Partei unterstellt ist. Mit einer differenzierten und auf Differenzen bestehenden Kommunikation wird dem chinesischen Gegenüber auch mitgeteilt, dass man mit dem politischen System vertraut ist. Letztlich gilt es Vokabular zu vermeiden, das etwa in der Propaganda und der Einheitsfrontarbeit der Kommunistischen Partei zentrale Verwendung findet. Darunter fallen subtiler Ausdrücke wie "Freunde" oder "Brücke", offensichtlicher "win-win-Kooperation" oder "eine neue Ära". Statt eines "Dialogs", der von zivilgesellschaftlichen Kräften verfolgt wird, möchte man vielleicht lieber davon sprechen, dass man "Kontakte" unterhält oder die eigene "Position" übermittelt. Sprache wird vonseiten der Volksrepublik China äußerst differenziert und bedacht verwendet. Gute Kenntnisse der Terminologie des chinesischen Parteistaats, sowie seiner Strukturen und Arbeitsweisen, sind eine Voraussetzung dafür, die eigenen Positionen glaubhaft und mit eigens gewähltem Vokabular zu vertreten.
Natürlich wird man nicht allein mit der Wortwahl die weltpolitische Lage und die Spannungen mit der Volksrepublik China zum eigenen Nutzen zu wenden vermögen. Nebst wohl überlegten Worten sind dafür sicherlich ebenso gut durchdachte Taten gefragt. Aber mit Sprache kommuniziert man stets auch nach innen, an die den Staat konstituierende Bevölkerung, der in einer liberalen Demokratie zum Glück nicht die Rolle einer "demokratischen Diktatur" zugedacht wird, die aber dennoch zentral ist. Wenn nun der 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen gefeiert wird, wie er gefeiert werden soll, dann bestehen, trotz des Bestrebens "diplomatisch" sich ausdrücken zu wollen, sehr wohl Spielräume, die entsprechend ausgefüllt werden können, um die grundlegend politische Differenz zwischen der "Bundesrepublik" und der "Volksrepublik" anzuzeigen.
Über den Autor
Ralph Weber ist Professor für European Global Studies an der Universität Basel in der Schweiz. Seine Forschungsgebiete umfassen die chinesische politische Philosophie, den modernen Konfuzianismus sowie die chinesische Politik. Er beschäftigt sich mit den europäisch-chinesischen Beziehungen und hat im Dezember 2020 eine vielbeachtete Studie zur Einflussnahme des chinesischen Parteistaats in der Schweiz veröffentlicht.