Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Prof. Dr. Marion Weissenberger-Eibl


50 Jahre deutsch-chinesische Beziehungen in die Zukunft führen

Fünfzig Jahre diplomatische Beziehungen zwischen China und Deutschland ist eine lange Zeit. Dazu gratuliere ich den beiden Ländern herzlich – wohl wissend, dass die gemeinsame Vergangenheit von Deutschland und China nicht erst mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehung begann! Der Blick zurück in die Vergangenheit ist sicherlich lohnenswert. Als Innovations- und Zukunftsforscherin richte ich meinen Blick jedoch sehr viel lieber nach vorne. So blicke ich stets in die Zukunft und frage in diesem Zusammenhang: Was können die nächsten 50 Jahre deutsch-chinesische Beziehungen wohl bringen?

Zunächst einmal sei klargestellt: Auch die Zukunftsforschung verfügt nicht über eine Glaskugel. Dennoch können wir mithilfe verschiedener Techniken und Methoden systematisch Zukunftsbilder erarbeiten und Strategien entwickeln. Damit schaffen wir eine solide Basis für künftige Entscheidungen. Als Innovationsforscherin interessiere ich mich insbesondere für Innovationen und deren Auswirkungen. Für deutsche wie chinesische Unternehmen sind Innovationen ein zentraler Schlüssel, um im digitalen Zeitalter der Zukunft zu bestehen:

Traditionell ist die deutsche Wirtschaft im Maschinen- und Anlagenbau stark. Es kommt jetzt und in Zukunft darauf an, digital zu denken und mit künstlicher Intelligenz und Machine Learning die industrielle Produktion voranzutreiben. Doch wir alle wissen: Die globalen Wirtschaftsgefüge verändern sich rasant: Nicht nur die Geschwindigkeit wird weiter zunehmen, die Systeme werden auch immer komplexer. Diese moderne Welt erfordert von allen Akteur:innen, Themen viel stärker zu verknüpfen, um auch unkonventionelle Lösungen zu finden. Im Zeitalter der Digitalisierung wird herausstechen, wer (fachliche) Grenzen überschreitet und mit neuen Partner:innen zusammenarbeitet. China, mit seiner immensen Wirtschaftskraft und seinen teilweise weltweit führenden Technologien, bietet sich als vielversprechender Kooperationspartner für die deutsche Wirtschaft an. Chinesische Unternehmen hingegen könnten am leistungsfähigen deutschen Innovationssystem partizipieren, indem sie sich im Rahmen von Forschung und Entwicklung eigenständig engagieren und mit deutschen Partnern kooperieren. Auf Basis der jeweiligen Stärken und Vorzüge beider Volkswirtschaften könnten deutsche und chinesische Unternehmen auf Augenhöhe Synergien finden, gemeinsam Ideen umsetzen und diese schließlich zum Erfolg führen.

Daher möchte ich drei Herausforderungen thematisieren, die es in den Fokus zu nehmen lohnt und denen wir uns gemeinsam annehmen sollten:

  • Zunächst möchte ich den Klimawandel nennen. Der Klimawandel ist eine der mächtigen „Grand Challenges“, denen wir sehr aktiv begegnen sollten. Als globales Phänomen wirkt der Klimawandel weltweit. Daher ist die Herausforderung Klimawandel auch prädestiniert für eine deutsch-chinesische Zusammenarbeit und gemeinschaftliche Lösungsansätze. Wassermangel, Desertifikation, Umweltkatastrophen und Energieversorgung sind nur ein paar Phänomene, die China und Deutschland betreffen. Vor allem im Bereich der erneuerbaren Energien sehe ich vielfältige Anknüpfungspunkte für gemeinsame Aktivitäten. Wenngleich beide Länder hier Vorreiterrollen in ihren Regionen einnehmen, ist in Deutschland der Ausbau der Wind- und Solarenergie ins Stocken geraten. Chinas Zahlen sind beeindruckend. Beide Länder werden aber von der Schwierigkeit gehemmt, umliegende Städte und Regionen mit grünem Strom zu versorgen. Sehr gute Chancen auf Synergieeffekte sehe ich auch im Bereich Windkraft. Acht der zehn größten Anlagenbauer sitzen in Deutschland und China. Hierin liegt ein enormes Zukunftspotenzial.
  • Beim Thema Ernährung gibt es ebenfalls einiges zu tun. Unsere Ernährungssicherheit ist ein weltweites Problem, das in Zukunft auch hochentwickelte Staaten verstärkt betreffen kann. Deutschland und China haben u.a. gemein, dass sie hohe Bevölkerungszahlen aufweisen und über vergleichsweise wenig landwirtschaftliche Fläche verfügen. Mit zunehmendem Wohlstand steigt auch in China einerseits das Körpergewicht und anderseits das Bewusstsein für gesunde Ernährung und die Nachfrage nach Bio-Produkten. Smog und Wasserverunreinigungen bspw. führen uns allen die Notwendigkeit einer gesunden Umwelt vor Augen. Wir sehen: Der Tisch für deutsch-chinesische Innovationsbestrebungen ist reichlich gedeckt. Synergieeffekte können durch deutsch-chinesische Kooperation entstehen. Deutschland ist bspw. in landwirtschaftlichen Themen, wie der Produktionssteigerung und der biologischen Landwirtschaft, eine Top-Adresse, China brilliert bei der Kommerzialisierung.
  • Die deutsche wie auch die chinesische Bevölkerung altert. Das bringt nicht nur Rentensysteme in Bedrängnis, sondern auch das Gesundheitswesen. In China liegt bspw. die Altenpflege noch immer in der Familie, wobei dies keine Option für die Zukunft ist. Auch in Deutschland werden sich Knappheiten in der Gesundheitsversorgung eher verschärfen. Für die Herausforderungen der alternden Gesellschaft sehe ich daher gemeinsame Anknüpfungspunkte. Deutschland punktet mit dem dualen Ausbildungssystem, China ist fit im Bereich Robotik – auch in der Pflege. Es bietet sich also an, in diesen Themen sowohl voneinander zu lernen und sich zu inspirieren als auch gemeinsame Aktivitäten zu verfolgen, die eine Kombination aus menschlicher Pflege und intelligenter, technischer Unterstützung anstreben.

Doch wie stellen sich die Voraussetzungen für gemeinsame Innovationsaktivitäten zwischen China und Deutschland dar? Deutschland zählt zu den innovationsstärksten Ländern der Welt. Das zeigt der Innovationsindikator, an dem das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI seit vielen Jahren im Auftrag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie mitwirkt. Laut der aktuellen Ausgabe von 2020 erreicht Deutschland erneut Platz vier im internationalen Vergleich von insgesamt 35 Volkswirtschaften. Doch die deutsche Innovationsleistung stagniert. In den gemessenen Teilsystemen Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Gesellschaft und Staat ist Deutschland nur mittelmäßig. Deutschlands Innovationsstärke hat noch Luft nach oben. Um weiterhin an der Spitze zu bleiben, sind verstärkt Investitionen in die Forschung zu künstlicher Intelligenz und die Ausbildung von Fachkräften sowie mehr Offenheit gegenüber ausländischen Technologien gefragt. Hier lohnt der Blick nach China.

Doch nicht nur, was technologische Innovationen angeht, ist Deutschland ein Vorreiter. Auch im Bereich der sozialen Innovationen punktet die deutsche Forschungs- und Unternehmenslandschaft zunehmend. Seit einigen Jahren innovieren zudem verstärkt Kooperationen aus Forschung, Kommunen, Bürgerschaft, Verwaltung, Politik und Wirtschaft. Im Fokus dieser Aktivitäten liegt das gesellschaftliche Miteinander. Daher ist die Zusammenarbeit verschiedener Akteure aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen schlichtweg zielführend. Soziale Innovator:innen entwickeln neue Lösungen für die Art und Weise, wie wir leben und unsere sozialen Praktiken gestalten. Dabei stehen Fragen zur Organisation gesellschaftlicher Abläufe, zum Konsumverhalten, zur Pflege älterer Menschen oder zur Behandlung von Krankheiten im Vordergrund. In offenen und kreativen Netzwerken arbeiten verschiedenste Akteur:innen gemeinsam an innovativen sozialen und praxisnahen Lösungen für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft der Zukunft.

Soziale Innovationen könnten Lösungsansätze bieten, die wir mit unseren chinesischen Partner:innen gemeinsam vorantreiben sollten. Denn sie werden auch Antworten liefern für Herausforderungen wie Klimawandel, Ernährung und Konsum sowie die Pflege älterer Bürger:innen.

Chinas Innovationsstärke ist dagegen (noch) nicht spitze. Trotz einer starken Dynamik im Subsystem Wirtschaft schafft es China bisher nur auf Platz 26 im weltweiten Ranking des Innovationsindikators. Der Fokus der chinesischen Bemühungen liegt weiterhin auf einigen wenigen Technologien. Gleichzeitig hat die chinesische Führung hohe Ambitionen, dieses Defizit aufzuholen. Einerseits begünstigen weiterhin Preisführerschaft und Infrastrukturinvestitionen sowie die Konzentration auf bestimmte Technologien den innovationstechnologischen Erfolg. Andererseits profitieren in China zunehmend innovative Technologie-Start-ups von der Unterstützung staatlicher Agenturen und risikofreudiger Venture-Capital-Inverstor:innen. Hier kann Deutschland meines Erachtens nach lernen.

Der Erfolg dieser Markteinsteiger gründet nicht zuletzt auf der offenen Fehlerkultur im chinesischen Markt. In der chinesischen Mentalität gilt: „Es fehlt nicht viel!“ Das bedeutet, auch Produkte und Dienstleistungen, die einen Entwicklungsstatus von etwa 80 Prozent haben, gehen an den Markt. Nachgebessert werden kann später. Das funktioniert zwar nur bei bestimmten Produkten und Services, doch die experimentierfreudige chinesische Gesellschaft sieht es genauso. Sie zeigt sich stets offen für neuartige, digitale Lösungen. Auch hier können wir von unseren chinesischen Partnern lernen. Wir können lernen, Neuem offener gegenüberzustehen und den Mut zu haben, Fehler auch mal zuzulassen. Wer in Experimentierräumen und Pilotprojekten ausprobiert und testet, schafft eine gute Basis für die weitere Entwicklung. Da können auch mal Fehler passieren. Das ist nicht schlimm, solange wir reflektieren, was schiefgelaufen ist. So können wir aus Fehlern lernen und gezielt optimieren und nachbessern – idealerweise im direkten Austausch mit Anwender:innen und Stakeholdern.

Jeder Innovationsprozess ist einzigartig und hochkomplex. Das gilt umso mehr, wenn es um die großen Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft geht. Sie erfordern eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit neuen Partner:innen. Das Ziel sollten immer Innovationen mit nachhaltigen Auswirkungen sein, sprich Innovationen, die langfristig positive Folgen auf wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Seite mit sich bringen. Umso wichtiger ist einerseits die Auseinandersetzung mit technologischen und gesellschaftlichen Trends und andererseits die Verknüpfung von ähnlichen Interessen. Die Zukunft bietet den deutsch-chinesischen Beziehungen reichlich Potenzial für Kooperationen und gemeinschaftliche Lösungsansätze. Lassen Sie uns unsere Zusammenarbeit fortführen.


Über die Autorin



Univ.-Prof. Dr. Marion A. Weissenberger-Eibl leitet das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI und ist Inhaberin des Lehrstuhls Innovations- und TechnologieManagement am Karlsruher Institut für Technologie. Sie arbeitet zu Entstehungsbedingungen von Innovationen und deren Auswirkungen. In Wirtschaft und Politik ist sie eine geschätzte Expertin in den Fokusthemen Digitalisierung, Innovation, Nachhaltigkeit und Zukunftsforschung. Seit 2014 engagiert sich Marion A. Weissenberger-Eibl im Deutsch-Chinesischen Dialogforum.