Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer施寒微


China und die Öffnung Europas

Aufbrüche

Zeitungsmeldungen wie »Das Chaos von Laos« und ein Interesse an der Überwindung von Hunger, Dürre und Krieg in allen Teilen der Welt bewogen mich nach meinem Abitur im Jahre 1967, vor 55 Jahren also, selbst über die Grenzen Europas hinaus zu gehen. Ich studierte Sinologie in Göttingen und München und beschäftigte mich besonders mit den geistigen Traditionen Chinas, insbesondere mit Chinas Auseinandersetzung mit allem Fremden. An dem Münchner Lehrstuhl für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft konnte ich dann seit 1981 lehren und forschen. Erträge waren u.a. eine Geschichte der chinesischen Literatur (1989; 2022 auch auf Chinesisch erschienen). Seit ich 1993 die Leitung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Forschungsstätte für europäische Kulturgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit übernommen hatte, verknüpften sich verstärkt wieder die Fragen nach der Besonderheit Europas mit sinologischen Fragestellungen.

Als Deutschen und Europäer hatte mich die Beschäftigung mit China seit Anbeginn zum Nachdenken über die Besonderheiten Europas geführt, das oft auch als „der Westen“ oder als das Abendland bezeichnet wird. Da erste Versuche, in die Volksrepublik zu gehen, gescheitert waren, beendete ich zunächst mein Studium an der Münchner Ludwig Maximilians Universität mit den Nebenfächern Politik, Philosophie und Soziologie. Eine deutsche Lehrerin in Peking schickte mir neueste Publikationen aus dem China der Kulturrevolution. Die 1972 eingereichte Dissertation beschäftigte sich mit dem Hongming ji 弘明集 und setzte sich mit den Auseinandersetzungen um die Lehren des Buddhismus in der Zeit der Teilung Chinas in Nördliche und Südliche Dynastien auseinander. Ein großzügiges Überseestipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes bot mir die Gelegenheit, nach Ostasien zu reisen und für die Geschichte des Buddhismus wichtige Orte aufzusuchen, nicht zuletzt die alte Kaiserstadt Kyoto, da wo ich meine Buddhismus-Studien intensivierte. So kam es zur ersten direkten Begegnung mit der chinesischen Welt im Jahre 1973. Ich war über Hongkong nach Taiwan gereist, wo man noch den Schock spürte, den kurz zuvor, im Jahre 1972, der Besuch Präsident Nixons in Peking ausgelöst hatte. Zuvor bereits hatte die Vollversammlung der UNO entschieden, dass nicht mehr Taiwan, sondern die Regierung in Peking, China bei den Vereinten Nationen vertritt. Beide Seiten aber, die Regierung in Taiwan ebenso wie die Regierung in Peking, hielten an der Ein-China-Politik fest.

Auch wenn mich alle Gegenwartsfragen brennend interessierten, galt meine Bewunderung und mein Interesse doch weiterhin der reichen chinesischen Kultur. Ich suchte nach einem besseren Verständnis der Lebenswelten im älteren China und verband mich zugleich mit den Gelehrten und Intellektuellen der Gegenwart. Viel hörte ich über die Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, die Entbehrungen der Kulturrevolution, und spürte die in die Neuentwicklung gesetzten Hoffnungen, aber auch die Skepsis gegenüber einer allzu schnellen Entfernung von der traditionellen Lebenswelt. China sollte doch China bleiben und nicht einfach eine Kopie des Westens werden!

Die buddhistische Geschichtsschreibung blieb mein Thema, auch als mich Rolf Trauzettel 1976 als Assistent an die Universität Bonn holte, wo ich mich bald mit einer Arbeit zur Identität der buddhistischen Schulen und der buddhistischen Universalgeschichtsschreibung in China habilitierte. Dort erlebte ich erste chinesische Staatsbesuche, etwa den von Hua Guofeng 華國鋒 im Oktober 1979, der durch sein Plädoyer für eine deutsche Wiedervereinigung Aufsehen erregte. Bald eröffneten sich dann auch mir selbst Gelegenheiten zu Reisen in die Volksrepublik China, wo ich die Schritte der Öffnungspolitik unmittelbar miterlebte bei einem Besuch Ende 1980 in Guangzhou, Peking und Chongqing, und dann immer wieder, etwa bei dem Symposium, welches Yang Wuneng 楊武能 zusammen mit Günther Debon unter dem Thema »China und Schiller, Schiller und China« in Chongqing im kalten März des Jahres 1985 organisiert hatte. Welche Dynamik die wirtschaftlich-industrielle Entwicklung in China entfalten würde, konnte damals noch keiner ahnen, und so wurden wir bald von einer Entwicklungsgeschwindigkeit, aber auch von wachsenden ökologischen Herausforderungen überrascht, die uns mit Sorgen erfüllten und die wir zugleich bewunderten. Soziale Regelungen, wie etwa seit 1980 die Ein-Kind-Politik, riefen ambivalente Gefühle hervor. Und doch erschien uns vor dem Hintergrund unserer Kenntnisse der Reformbewegungen des 20. Jahrhunderts dieser Entwicklungspfad plausibel. Mich interessierte der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ im China der Kaiserzeit, die Modernisierung und ihre Vorgeschichte in der Zhejiang-Region, und immer wieder die literarischen Traditionen.

Trotz aller Globalisierung blieb aber der eigentlich erst seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts begonnene Weg der Überwindung der Beherrschung der Welt durch Europa und der Formierung einer Weltgesellschaft, der mich bewogen hatte, über Europas Grenzen hinaus zu streben, gefährdet, was gegenwärtig besonders deutlich wird. So betrachte ich es bis heute als meine Aufgabe, den einmal eingeschlagenen Weg der Öffnung Europas für eine gerechtere Welt gerade angesichts der großen Herausforderungen, weiter zu befördern. Dabei ist eine der neuen Hürden die Rede von einer „systemischen Rivalität“ zwischen China und dem Westen, so als gelte es, die Europäisierung der Welt weiter voranzutreiben. Dabei liegt in dem Versuch einer Vereinheitlichung der Systeme die Gefahr des Verlustes der Errungenschaften der Aufklärung und damit der eigenen Glaubwürdigkeit. Denn diese gründet in der Anerkennung der Andersartigkeit des Anderen. Bewusst stelle ich mich deswegen in die Tradition der vor etwa zehn Jahren formulierten Fragestellung Henry Kissingers: „Daher lautet die Frage nicht, ob China das 21. Jahrhundert beherrschen wird, sondern vielmehr, ob wir China in eine universellere Vorstellung des 21. Jahrhunderts integrieren können.“ In dieser Haltung bestärken mich heutige Stimmen in den Vereinigten Staaten, welche die gegenwärtige Containment-Politik kritisieren und in der Konstruktion eines systemischen Gegensatzes die Gefahr eines eigenen Identitätsverlustes sehen. Dies fasste jüngst eine Kommentatorin in den Satz: „In attempting to out-China China, the United States could undermine the strengths and obscure the vision that should be the basis for sustained American leadership“ (Jessica Chen Weiss in: Foreign Affairs, Sept/Oct 2022).

Das Interesse an China, „Alteuropa“ und ein neues Miteinander

Es dauerte nicht lange, dass ich als Repräsentant der Sinologie, worunter man die europäische Beschäftigung mit China versteht, in vielerlei Diskurse einbezogen wurde, darunter in die Gruppe der Herausgeber der Max-Weber-Gesamtausgabe. So wandte ich mich dann auch in meiner Zeit als Direktor der Herzog August Bibliothek nicht von China ab. Einer meiner berühmtesten Vorgänger im Amt des Bibliothekars, Gottfried Wilhelm Leibniz, hatte in den letzten Jahrzehnten seines Lebens China nahezu ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt.

China ist also seit dem Ende der, durch eine Griechenlandreise zu einem Abschluss gebrachten Schulzeit Teil meines Denkens und Fühlens geblieben. Durch die Freundschaft mit Chinesinnen und Chinesen in China und weltweit, durch Begegnungen mit bedeutenden chinesischen Literaten und Historikern, aber auch mit Sinologen aus aller Welt empfinde ich mich als Teil der chinesischen Welt, als deren distanzierter Beobachter und zugleich als Vertrauter. Wie manche sinologische Vorgänger verstand ich mich als Wanderer zwischen zwei Welten, hatte zugleich aber auch durch die sich intensivierende amerikanische Chinawissenschaft, dann aber auch durch die Mitgliedschaft der Herzog August Bibliothek im Verbund der Independent Research Libraries (IRLA) eine dauerhaft große Nähe zu den Vereinigten Staaten.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte als Teil des westlichen Bündnisses in der Folge der Ping-Pong-Diplomatie Henry Kissingers diplomatische Beziehungen zu China aufgenommen, was in der Bundesrepublik manche zunächst als Alleingang betrachteten, dann aber doch zum Ansporn für die Aufnahme eigener diplomatischer Beziehungen wurde. Nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 fühlte sich Deutschland mit China auch im Hinblick auf die Ein-China-Politik in besonderer Weise verbunden. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und die erfolgreiche Wirtschafts- und Industriepolitik, die ohne eine sehr kluge Bildungs- und Wissenschaftspolitik, aber auch nicht ohne solch visionäre Unternehmer wie Carl Hahn von Volkswagen denkbar gewesen wären, führten zur Intensivierung der Beziehungen und damit zu einer neuen Rolle Chinas in der Welt und erfordern nun von allen Seiten entsprechende Anpassung.

Während sich China und die Vereinigten Staaten immer stärker aufeinander beziehen, hat Europa noch nicht seine Rolle gefunden und noch nicht in vollem Umfang die Chancen einer intensiveren Zusammenarbeit mit China erkannt.

Nicht eine stärkere Uniformierung Europas wird jedoch die Lösung bringen, sondern, wie in der Vergangenheit, wird Europa seine Stärke in die internationalen Beziehungen am besten mit Hilfe der Selbstwahrnehmung seiner historischen Fragmentierung und gleichzeitigen inneren Vernetzung einbringen und muss dabei seine Distanz zu Russland und dessen osteuropäisch-asiatischen imperialen Traditionen immer wieder von Neuem ebenso justieren wie seine Unabhängigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten wahren. Da Europa mit seinen Erfahrungen aus der Frühen Neuzeit mehr als irgend ein anderer Teil der Welt die längsten Erfahrungen mit Modernisierung hat, könnte seine Aufgabe darin bestehen, Konzepte einer multipolaren Postmoderne zu entwickeln, bei der nicht nur Stärke, sondern auch Überzeugungskraft und moralische Glaubwürdigkeit wesentliche Elemente bilden. Die Rekonstruktion der europäischen Frühen Neuzeit, die zugleich ein Teil der Vorgeschichte der gegenwärtigen Welt ist, kann zusammen mit der Anerkennung vielfältiger Traditionsbildungen, darunter auch der Traditionen Chinas, zur Grundlage für eine neue Verständigung werden.

Da sich mein Leben sowohl nach China und Ostasien, aber auch zu den Vereinigten Staaten hin orientiert hat und ich später durch meine Zeit als Direktor der Herzog August Bibliothek die Erforschung der europäischen Frühen Neuzeit in den Blick nahm, sind für mich die Pflege europäischen Selbstbewusstseins und Freude am Austausch mit China und die Fragen nach der Ordnung der Welt zur Selbstverständlichkeit geworden. Gespräche dazu wurden bei den Treffen der Internationalen Vereinigung für Konfuzius-Studien 國際儒學聯合會 durch Begegnungen mit Chinakennern aus aller Welt belebt und erweitert. In der gegenwärtigen Phase einer Neuorientierung der internationalen Politik liegt mir daher der Hinweis am Herzen, dass eine gelingende Weltordnung nicht durch Gegnerschaft, sondern nur durch Kooperation und die Verfolgung eigener Ziele bei gleichzeitiger reflexiver Selbstvergewisserung eigener Überzeugungen gelingen kann.


Über den Autor



Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer 施寒微 ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen, war seit 1993 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und ist seit 2016 Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen. Zuletzt erschien von ihm in der Reihe Fröhliche Wissenschaft bei Matthes & Seitz Berlin »Der Edle und der Ochse. Chinas Eliten und ihr moralischer Kompass« (2022).