Prof. Dr. Erich Thies
China im Zwielicht
Das Wort Zwielicht in Verbindung mit China bedarf einer Erläuterung.1 Grimms Deutsches Wörterbuch liegt mir nahe: im Mittelenglischen ist seit 1440 “twilight” nachgewiesen. Wir assoziieren unmittelbar mit Zwielicht zwei, doppelt. Diese Seite ist hier nicht gemeint, schon gar nicht die moralische Bewertung “zwielichtig”. Nach Grimm liegt eigentlich auch nicht die Bedeutung “doppelt” zugrunde, sondern eher “die vorstellungen 'halb, gespalten, geteilt' oder 'zweifelhaft, schwankend', wie sie von 'doppelt' aus sich leicht ergaben und auch in hd. zwie-bildungen früh zutage traten, s. z. b. zwiefalt, zwiefältig, vgl. auch zweifel” Dem, was hier mit Zwielicht gemeint ist, kommt Goethe am Nächsten. Vom “schillernden wechselspiel der farben (des Damast-Stoffes) zwischen hell und dunkel: ... ohne farbgrund; dadurch erhielt das ganze ein gewisses zwielicht, das dem damast eigen ist, und die einzelnen theile gewannen ein unbeschreibliches leben, da die farbe dem beschauer nie dieselbe blieb, sondern in einer gewissen bewegung von hell und dunkel abwechselte (1825)”.(Grimm, Bd. 32, Sp. 1159) Das beschreibt gut die Faszination, die Diejenigen ihre Blicke auf China und seine Menschen richten und halten lässt, die die strikte Entweder-Oder-Forderung der augenblicklichen China-Diskussionen nicht nachvollziehen wollen. Das Wechselspiel von hell und dunkel.
Hell sind Erinnerungen an eine fremde Kultur, von der Elemente in den eigenen Umgang mit der Welt eingeflossen sind. Es sind Erinnerungen, in denen Fremdes in das eigene Leben eintrat und blieb. Prägend ist der Umgang mit Zeit und den Bildern, in denen – vergeblich -– versucht wird, sie zu fassen und festzuhalten.
Die Zeit geht über unser Leben darin / Wie Schatten von Wolken über eine Landschaft ziehen. In diesen Bildern wird das alte China auch heute sichtbar. Schrift, meinen wir, soll festhalten, möglichst ewig. Die Vergeblichkeit des Festhaltens wird augenscheinlich in den im Entstehen vergehenden chinesischen Schriftzeichen, wenn sie kunstvoll mit Wasser auf den Boden gemalt werden.
Dankbar und auch fröhlich macht der langjährige Umgang mit Menschen, mit denen es möglich war, vertrauensvoll in Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen zusammenzuarbeiten. Die Resultate sind beträchtlich. Und machen zufrieden und stolz. Im Laufe der Zusammenarbeit wuchsen Freundschaften, entstanden über Jahre hinweg mit einer Beständigkeit und Fürsorglichkeit, die selten ist und kostbar. Beides, gelingende Gestaltung gemeinsamer Projekte und auf Freundschaft basierende, vertrauensvolle Zusammenarbeit erlaubten einen optimistischen Blick in die Zukunft.
50 Jahre diplomatische Beziehung zwischen Deutschland und China bilden die Grundlage für das, was seit der Öffnung Chinas Ende der siebziger Jahre gemeinsam möglich war. 50 Jahre sind zunächst nur eine Zahl. Entscheidend ist, ob diese Zeit mit Leben erfüllt war. Und ist und sein wird! In Wissenschaft und Forschung entstand eine privilegierte Partnerschaft beider Staaten, die den Austausch von tausenden Wissenschaftlern, Studierenden und auch Schülern ermöglichte; zum Vorteil beider Staaten auch in den Zivilgesellschaften, in Wirtschaft und Kultur. Die Zeit des selbstverständlichen, vertrauensvollen Austausches ist heute durch schleichenden Zweifel geprägt. Wir stehen in einem Zwielicht, das im wechselnden Hell und Dunkel die Konturen verschwimmen lässt. Skepsis beherrscht den Blick, ob denn die bisherige politische Offenheit als gemeinsame Grundlage bewahrt werden kann.
Gut zwei Jahrzehnte nahmen für mich Eindrücke in China, Erfahrungen, Erlebnisse einen wichtigen Platz in Beruf und Privatleben ein; wobei das Anekdotische nicht etwa weniger bedeutet als das Systematische. Die Spannweite ist erheblich: von Kanzler Kiesingers schwäbischen “Ich sage nur: Kina, Kina, Kina”, mit dem er 1969 vor der gelben Gefahr warnte, bis zu Freundschaften und sehnsuchtsvoll Vertrautem in Chinas alter Kultur – das in China zu finden war und immer noch ist. Dieser spannungsvolle Bogen ist geblieben, und daran hat sich bis heute nichts geändert! Vom zeremoniellen Tee im Kloster bei Hangzhou bis zu den Kameras an Kreuzungen und Hörsälen.
Zwischen Kiesinger und den Kreuzungen liegen etwa fünfzig Jahre, fünf Jahrzehnte Deutsch-Chinesischer Politik. Im Jahr 1972 stand meine Dissertation über Hegel und Feuerbach im Mittelpunkt, und dafür war das Abkommen zwischen China und Deutschland ohne jede Bedeutung. China war fremd und weit weg. Die “Gelbe Gefahr” war irreal. Das kleine rote Buch mit Zitaten von Mao war allgemein bekannt, es war die Bibel für eine kleine, sektiererische Studentengruppe. Real dagegen war damals der Kalte Krieg, in dem sich die Blöcke Vereinigte Staaten und Sowjetunion gegenüberstanden; nah war auch noch der Zweite Weltkrieg und dessen Folgen für das alltägliche Leben. China spielte keine Rolle. Inzwischen ist China Weltmacht. Heute sind wir wieder bei geopolitischen Blöcken und strategischen Schachzügen, die sich über Alles legen. Eben auch über Wissenschaft und Forschung.
Goethe in China
Die erste Begegnung mit China war prägend: eine kleine Gruppe chinesischer Germanisten aus Peking, alte Herren mit mir fremden asiatischen Gesichtern, besuchte die Pädagogische Hochschule Heidelberg. Sie sprachen ein faszinierendes, druckreifes Goethe-Deutsch. Ein fremdes und doch nahes Deutsch, ein Deutsch, das aus der Literatur des 19. Jahrhunderts vertraut war, aber nicht als lebendig gesprochene Sprache. Die Professoren aus Peking waren vorher nicht in Deutschland gewesen und hatten ihr Deutsch durch Bücher gelernt. Sie schienen Gelehrte eines vergangenen Jahrhunderts zu sein. 50 Jahre später verantwortet ein Freund, JIANG Feng, Konzilsvorsitzender der SISU, die chinesische Übersetzung von Goethes Sämtlichen Werken. Welten liegen in dieser Zeitspanne: Öffnung, Austausch in Wissenschaft und Forschung, Fortschritte, Gespräche, freundschaftliche Nähe. Tradition und politischer Wandel und auch wachsende Probleme… Das Fremde und zugleich Nahe ist geblieben, und macht das Verhältnis zu China bis heute unglaublich spannend und fruchtbar.
Begegnung - Austausch - Gestaltung
Die ersten offiziellen Begegnungen mit Professoren, Politikern und Ministerialbeamten waren bestimmt durch Zeremonien, Essen und förmliche Erklärungen. In Peking, Shanghai, Nanjing und Lhasa. Delegationsrituale. Es folgten Städte wie Kunming, Xian, Shenzhen, Tsingtao… Neben dem Förmlichen entwickelten sich allmählich persönliche Beziehungen, geprägt durch Vertrauen, Verlässlichkeit und gemeinsame Interessen. In 25 Jahren entstanden Freundschaften, die Grundlage waren für die Umsetzung gemeinsamer Projekte in Deutschland und China: Gründung von Konfuzius-Instituten mit XU Lin, der Leiterin von Hanban, und der Bundeskanzlerin, Austausch von Lehrern, Schüleraustausch, Summercamps in China, Chinesischunterricht an deutschen Schulen, Ausbildung von Chinesisch-Lehrern samt Staatsexamen, Anerkennung von akademischen Abschlüssen, gemeinsame Studiengänge, Deutsche Schulen in China, Berufsbildung, gemeinsame Forschungsprojekte, gemeinsame Publikationen. Es war eine Zeit enger Kooperation zwischen der Kultusministerkonferenz, der Botschaft der Volksrepublik China und Bildungseinrichtungen beider Länder. Die Zahlen chinesischer Studenten in Deutschland stiegen deutlich, die Zahlen deutscher Schüler, die chinesisch als Schulfach wählten, ebenfalls. Seitdem gibt es sogar deutsch-chinesische Kindergärten, in denen Kinder bilingual aufwachsen. Es war eine erfolgreiche, zukunftsträchtige Zeit! Es gab viele Akteure, JIANG Feng und ich hatten das Glück, mitgestaltend dabei sein zu können.
Ein Strahlen für einen Gruß
Die Jogging-Strecke über den Campus der Tongji Universität führte an einem Kindergarten vorbei. Im Vorbeilaufen gab es einen kurzen Gruß an eine Frau, die die Kinder betreute. Ihre Antwort war ein strahlendes Gesicht, voller Offenheit und Freude – frei von allen Sprachen. Die glückliche Unmittelbarkeit dieser Begegnung, ihre unverstellte Zugewandtheit ist bleibender Teil dessen, was meine Verbindung mit China bis heute lebendig macht. Seitdem gibt es zuverlässige Freundschaften, die unverbrüchlich tragen – über alle Hindernisse hinweg, auch über wechselnde politische Rahmenbedingungen, wie sie die heutigen Beziehungen bestimmen.
Drei Monate als Gast der Peking Universität, der Tongji Universität und der Zhejiang Universität brachten zahllose offene Gespräche mit Professoren und Studenten mit sich. Vorträge und Lehrveranstaltungen führten zu Fragen und Diskussionen weit über das eigentliche Thema hinaus. In Deutschland habe ich keine solch intensive Neugier zu lernen und vorwärts zu kommen erlebt wie hier. Wenn die anfängliche Schüchternheit, vor allem der Jungen, überwunden war, und man sich in einer gemeinsamen Sprache zurechtgefunden hatte, ging es um Heideggers “Feldweg”, Hegels “Phänomenologie des Geistes”, Gadamers “Hermeneutik”, Interpretationen von Gedichten von Celan, Ernst Meister, Hilde Domin. Texte von Kant und Marx, um zeitgenössische Kunst und Kultur, um Dissertationsprojekte und nicht zuletzt um Fragen des alltäglichen Lebens und natürlich um Politik.
Die Gastfreundschaft von Professoren und das unbefangene, zugleich respektvolle Interesse der Studierenden waren immens. Das Interesse an der Kultur des jeweils anderen Staates zeigte mit seinen Fragen, wie nah und zugleich fern die jeweiligen Lebenserfahrungen waren. Die meisten der Professoren, mit denen es zu Gesprächen kam, waren mehrere Jahre in Deutschland gewesen, hatten an einer deutschen Universität studiert und besuchten “ihre” Universität in regelmäßigen Abständen, hielten dort Vorträge oder bereiteten Publikationen vor. Die meisten von ihnen hatten ein intensives Verhältnis zu Deutschland, ihr emotionales Engagement war entschieden stärker als das, was unter Deutschen für Deutschland gewohnt war. Mehr als 40.000 Studierende aus China an deutschen Universitäten, knapp 5000 chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den Universitäten und Forschungseinrichtungen. Das entspricht einer mittelgroßen Universität allein mit Studierenden aus China. Das sind große Zahlen und Beweis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung.
Die Peking Universität zeigte sich am Ort der staatlichen und politischen Macht, die Tongji Universität in Shanghai in ihrer langen Verbundenheit mit deutscher Lehre und Forschung. Und die Zhejiang Universität lebte ihr hohes Maß an Qualität und Ausstattung an ihren verschiedenen Standorten. Das Maß an Hilfsbereitschaft und persönlicher Unterstützung war berührend. Die Universität im Regierungszentrum, der besonders geprägte Standort eines internationalen Shanghai und der alte Zhejiang-Campus im Herzen von Hangzhou – drei verschiedene Perspektiven und Charaktere chinesischer Universitäten. Hinzu gekommen ist die Gastfreundschaft der Shanghai International Studies University mit einer starken Germanistischen Fakultät
Nur Dialog verspricht Zukunft
Die Zeiten sind politisch komplizierter geworden, die machtpolitischen Interessen der Staaten überlagern und verschatten über viele Jahre gewachsene Strukturen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und auch freundschaftliche Verhältnisse zwischen deutschen und chinesischen Wissenschaftlern. Der Krieg in der Ukraine erzwingt Positionierungen, die einen angemessenen Umgang miteinander in Wissenschaft und Forschung erschweren. Corona bewirkt ein Übriges. Videokonferenzen ersetzen kein persönliches Gespräch, in dem man das kann, was Voraussetzung jeder Wissenschaft ist: begründen, abwägen und sich gegebenenfalls korrigieren. Was also kann jeder Einzelne tun? Auf der persönlichen Ebene muss Jedem daran gelegen sein, auch über räumliche und zeitliche Abstände hinweg, den wissenschaftlichen Dialog und die freundschaftliche Beziehung zu erhalten. Und offiziell? Vor wenigen Jahren wurde von den Regierungschefs beider Staaten das “Deutsch-Chinesische Dialogforum” eingerichtet. Ein erstes Treffen fand in Tsingtao statt. Es war ein guter, erster Aufschlag, dann kam die Pandemie. Im Interesse beider Staaten liegt es, dieses – auch symbolisch wichtige – Instrument des deutsch-chinesischen Dialogs nicht nur fortzusetzen, sondern zu pflegen und zu stärken.
Das Verharren in der Trauer über Verlorenes hilft nicht weiter. Neue Projekte zwischen Hochschulen in Deutschland und China machen Hoffnung, dass eine offene Zusammenarbeit nach Prinzipien der Wissenschaft nach wie vor möglich ist. Das wirtschaftliche Interesse an Zusammenarbeit bleibt trotz einiger Reibungsverluste weiterhin ungebrochen und steht in einem starken Kontrast zu der von vielen Medien forcierten China-Kritik als scheinbar öffentliche Meinung. Was bleibt, ist die tägliche Aufgabe, den Prinzipien von Redlichkeit und wissenschaftlicher Arbeit zu folgen, den Kontakt zu chinesischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufrecht zu erhalten und weiterhin gemeinsam an neuen Einsichten zu arbeiten.
Über den Autor
Geb. 20.09.1943 in Rotenburg (Wümme) – 1963-70 Studium der Philosophie,
Germanistik, Kunstgeschichte in Tübingen, Heidelberg, Berlin – 1973
Promotion in Philosophie – 1976 Professor für Philosophie an der Päd.
Hochschule Heidelberg – 1978-86 Rektor der Hochschule – 1991
Planungsbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin – 1992-98
Staatssekretär für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin – 1994
Professor für Philosophie und Pädagogik an der Humboldt-Universität – 2009
Bundesverdienstkreuz 1. Klasse – 2010 Honorarprofessor an der Tongji
Universität – 2011 Gastprofessor an der Beijing Foreign Studies University –
2011 Gastprofessor an der Zhejiang Universität, 2012 Senior Consultant von
Hanban – 2015 Gastprofessor an der Shanghai Foreign Studies University -
2019 Mitglied des Deutsch-Chinesischen Dialogforums.