Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Prof. Dr. Andreas Guder


Chinesisch als Fremdsprache – Von den Dimensionen des Lernens und Verstehens

In den späten 1980er Jahren begann ich neben dem Germanistikstudium, Chinesisch zu lernen – vor allem aus Begeisterung für die chinesische Schrift, die sich so fundamental von einer Alphabetschrift unterschied – von China selbst hatte ich keine Ahnung. Es waren Tausende, die damals im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik Chinas Chinesisch lernen wollten. Aber die Chinesischlehrwerke der damaligen Zeit bestanden in China wie in Europa vor allem aus einzelnen Sätzen mit wenig brauchbaren Vokabeln, sie führten weder zu Kommunikationsfähigkeit noch zu einem tieferen Verständnis chinesischer Lesetexte. Und die Lehrkräfte selbst waren häufig Gastdozenten aus chinesischen Partneruniversitäten, oft ohne Deutschkenntnisse, die die Methodik ihres selbst erfahrenen Englischunterrichts in China auf uns erwachsene Chinesischlerner übertrugen, ohne uns irgendetwas erklären zu können. Weder wurde uns die innere Logik der Schriftzeichen noch die topic-prominente Struktur chinesischer Syntax deutlich gemacht, die erst zum Tragen kommt, wenn die Grenze des einzelnen Satzes überschritten wird. Ein paar Jahre später beschloss ich, mich mit Fremdsprachendidaktik Chinesisch zu befassen.

Heute, 30 Jahre später, haben sich nicht nur die deutsch-chinesischen Beziehungen, sondern auch der Chinesischunterricht enorm weiterentwickelt: Neben 25 chinawissenschaftlichen Instituten an deutschen Universitäten ist Chinesisch an über 100 weiterführenden Schulen in 14 Bundesländern reguläres Schulfach, es existieren Rahmenlehrpläne für den schulischen Chinesischunterricht sowie Regelungen für Abiturprüfungen im Grundkurs Chinesisch.

Ab den 2000er Jahren erfuhr das Fach Chinesisch als Fremdsprache zusätzlich von chinesischer Seite Unterstützung. China trat der WTO bei, und die sich stetig intensivierenden Handelsbeziehungen sowie die Gründung zahlreicher Konfuzius-Institute beflügelten die Popularität des Chinesischen als Fremdsprache in Deutschland. Heute lernen etwa 5.000 Schüler bundesweit Chinesisch als zweite, dritte oder spät beginnende Fremdsprache (in Frankreich oder Italien deutlich mehr), etwa ebenso viele studieren die Sprache an den chinawissenschaftlichen Instituten der Hochschulen.

Im Fachverband Chinesisch stellen wir im Gespräch und in unseren Studien mit Lehrkräften fest, dass sich das Schulfach Chinesisch nicht nur, wie häufig angenommen, für besonders begabte Schülerinnen und Schüler eignet. Sein Potenzial entfaltet das Fach vor allem in der Faszination des „Anderen“, der chinesischen Kultur, seiner Schrift und Sprache. Ob durch das schriftsystembedingte, Konzentration stärkende Handschrifttraining oder in einer durch den Erwerb einer „ungewöhnlichen“ Sprache gestärkten Persönlichkeit – im Schulfach Chinesisch liegen zahlreiche Effekte, die das allgemeine Bildungsziel der Persönlichkeitsentwicklung unterstützen und das methodische Repertoire dazu erweitern. Vor allem aber wird durch die Beschäftigung mit der chinesischen Welt, ihren historischen Entwicklungen und kulturellen Wertesystemen und durch direkte Erfahrungen wie Schüleraustausch im Rahmen gegenseitiger Besuche auf beiden Seiten die Fähigkeit zur Entwicklung eines Bewusstseins für die Komplexität unserer diversen Welt und damit die mehr denn je wichtige Fähigkeit zum Perspektivwechsel befördert.

Hierin liegen die Stärken des Schulfachs Chinesisch, dessen Ziel es angesichts des begrenzten Unterrichtsumfangs nicht sein sollte, in utilitaristischer Weise berufstaugliche Kommunikationskompetenz in Wort und Schrift im Chinesischen zu erwerben, sondern China bei seinem atemberaubenden Aufstieg aufgeschlossen, kritisch und kompetent zu begleiten und dabei einen sprachlichen und kulturellen Einstieg in eine Welt außerhalb Europas zu erhalten, wie er in den kommenden Jahrzehnten zunehmend gefragt sein wird.

Leider ist Chinesisch – entgegen manchen Behauptungen – letztlich doch eine schwierige Sprache: Seit Jahrzehnten zeigen Studien, dass Europäer für ein bestimmtes Sprachniveau im Chinesischen die doppelte bis dreifache Zeit gegenüber einer europäischen Fremdsprache brauchen. Das komplexe Schriftsystem, die Tonalität, die phonetische Ähnlichkeit der Wörter, die Fremdheit von Namen, Begriffen und deren Kulturgeschichte führen dazu, dass Lernziele und vor allem Lernzeiten gegenüber europäischen Sprachfächern modifiziert werden müssen. Viele fachdidaktische Fragen, die in der europäischen Fremdsprachendidaktik so nicht gestellt werden, bedürfen noch der Erforschung, beispielsweise das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftsystem im Unterricht, von gesprochenem Chinesisch und Schriftsprache, der große Unterschied zwischen digitalem und manuellem Schreiben, vor allem aber auch die Diskussion zu Inhalten und Anteilen chinakundlichen Wissens und transkultureller Kompetenzen im Schulfach Chinesisch, zum Umgang mit bilingualen Schülerinnen und Schülern und viele weitere Aspekte.

Um den Chinesischunterricht mit Leben zu füllen, sollte aber vor allem das Leben und Denken, der Alltag der Menschen im Vielvölkerstaat China selbstverständlicher Teil des Spracherwerbs sein. Unsere Gesellschaft erfährt viel zu wenig über das reale Leben der Menschen, welche Gedanken, Visionen und Sorgen die Menschen in China bewegen. Leider haben sich die Möglichkeiten, an diesem Leben teilzuhaben, in jüngerer Zeit beträchtlich reduziert – auch durch die Great Firewall und Chinas Entkopplung der digitalen Systeme. Neugier auf China und Chinesisch aber braucht Motivation!

In Deutschland wiederum wird an vielen Sprachlehrinstitutionen - nicht zuletzt aus einer ökonomischen Haltung heraus - erwartet, dass man sich im Hinblick auf Lernziele an den Vorgaben „üblicher“ Fremdsprachen zu orientieren habe. Dabei ist aus chinesischer Perspektive die sogenannte „Fremdsprache“ Englisch im Grunde ein Dialekt des Deutschen (oder umgekehrt). Das Erlernen „echter Fremdsprachen“ gehört bis heute nicht zu unserem Bildungskanon - anders als in China. Mit dieser eurozentrischen Haltung wird fortgeschrittenes Erlernen des Chinesischen oder anderer außereuropäischer Kultursprachen jedoch im Keim erstickt, denn professionelle Chinesischkenntnisse in Wort und Schrift lassen sich auch im Rahmen von 50 Leistungspunkten an der Universität kaum erreichen. Und wertgeschätzt werden sie allenfalls ideell, gute Chinesischkenntnisse eröffnen in Europa jedoch bis heute keine Karrieren. Um einander tatsächlich auf Augenhöhe zu begegnen, brauchen wir eine Gesellschaft, in der Kompetenzen in außereuropäischen Fremdsprachen besonders honoriert werden.

Und die chinesische Sprache und Schrift stellen für jede und jeden, der sich auf sie einlässt, einen vollkommen neuen und faszinierenden Kosmos dar: Eine andere Schrift, eine fremde Geschichte und unzählige unbekannte Geschichten, eine neue Philosophie wollen entdeckt und verstanden werden. Zahllose Begrifflichkeiten, die im europäischen Denken nicht existieren, machen die chinesische Sprache, die chinesische Welt zu einem Lernziel, bei dem wir etwas über uns selbst, aber auch über die Vielfalt menschlicher Kultur erfahren. Dazu müssen wir aber zunächst bereit sein, den chinesischen Kulturraum unserem (kleineren) europäischen Kulturraum gegenüberzustellen, China gewissermaßen wie einen Kontinent zu betrachten.

Angesichts der Debatte um unsere Auseinandersetzung mit China hat der Fachverband Chinesisch 2022 eine „Tübinger Erklärung zu Entwicklung und Ausbau von Chinakompetenz in der Bundesrepublik Deutschland“ veröffentlicht. In dieser wird mehr Chinawissen in den Schulen, interdisziplinäre Wissenschaft, Chinesischunterricht und Förderung bilingualer junger Menschen gefordert. Vor allem aber ist, wie oben bereits erwähnt, eine Förderung des individuellen Austauschs auf beiden Seiten unabdingbar. Austausch mit China ist immer eine interkulturelle Herausforderung und selbst bei optimierter Nutzung digitaler Formate kostspielig: Kommunikative Strukturen, Hierarchien und Zielsetzungen sind kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren unterworfen, sie müssen in komplexen Gesprächen miteinander erarbeitet werden. Personen, die seit Jahrzehnten kompetent interkulturelle Kontaktarbeit und Begleitung leisten, sollten entsprechende Wertschätzung bei der oft mühsamen Anbahnung und Betreuung solcher Kontakte erfahren – hierzulande wie in China. Es ist daher ein von mir lange erhoffter Schritt in die richtige Richtung, dass auf Bundesebene Strukturen (wie das von der Stiftung Mercator und dem Goethe-Institut 2020 gegründete Bildungsnetzwerk China als private Initiative) geschaffen werden, die entsprechende chinabezogene Aktivitäten bündeln und unterstützen können.

Seit der Pandemie ist der für unser Verständnis Chinas und des Chinesischen entscheidende individuelle Austausch mit China allerdings zum Erliegen gekommen. Seine Revitalisierung in den kommenden Jahren erfordert umfassende finanzielle Förderung und erfahrene Akteure auf beiden Seiten – und er muss von beiden Seiten gewollt werden! Mit jedem Film, jedem Buch, in jedem Gespräch mit China stelle ich fest, dass ich, dass wir noch viel zu wenig übereinander wissen. Stattdessen scheinen sich Feindbilder zu zementieren, die unsere Welt nicht brauchen kann. Aus meiner Sicht gibt es bei allen politischen Meinungsverschiedenheiten auch in den nächsten 50 Jahren nur den einen Weg: Den des fortgesetzten gegenseitigen Lernens, und er braucht unser aller Unterstützung.


Über den Autor



Andreas Guder (*1966), Studium in München, 1991/92 Austauschstipendiat an der Peking-Universität, M.A. Deutsch als Fremdsprache 1995, Promotion 1999 in Sinologie zu Chinesischunterricht. 1998-2002 DAAD-Lektor in Peking, 2003-2006 Juniorprofessor für chinesische Sprache und Übersetzung in Germersheim, 2006-2016 Leiter des Studienbereichs Chinesische Sprache an der FU Berlin, danach Professor für Fachdidaktik Chinesisch in Göttingen. Seit 2019 Professor für Didaktik des Chinesischen sowie Sprache und Literatur Chinas an der FU Berlin, wo er derzeit einen Lehramtsstudiengang für das Schulfach Chinesisch entwickelt. Seit 2004 Vorsitzender des bundesweit tätigen Fachverbands Chinesisch e.V..