Oliver Radtke
Mit China wachsen
Von den 50 Jahren diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China habe ich – time flies – fast die Hälfte miterlebt, als Bierfestivalmusiker, Filmstatist und Sprachstudent in Shanghai und Beijing, als Reporter, Autor, Redakteur in Chengdu, Yinchuan, Shenyang oder Hangzhou und als Stiftungsmanager mit vielen Austauschprogrammen zwischen beiden Ländern. Als Zeitzeuge der Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft muss ich mit einem Geständnis beginnen: Ich bin zu keinem „Chinabild“ mehr fähig. Denn von welchem China reden wir eigentlich? Von wessen? Und von wann? Geographisch, thematisch wie zeitlich können sich die Bilder so stark unterscheiden wie Malmö und Mailand oder ein Leben mit und ohne Strom. Also schreibe ich über mein eigenes China. Das mich jeden Tag aufs Neue erschüttert und erfreut, ärgert und motiviert – eine Liebe, die offenbar bereits ein halbes Leben lang hält.
Ich schreibe gerne über China. Weil ich dabei viel über mich erfahren kann. Weil mich Schreiben mit China verbindet. Weil die chinesische Schrift so viel mehr ist als reine Information, nämlich ein Fernglas in die Gedankenwelt und den Erfindungsreichtum einer sehr alten Hochkultur. Menschen, die wie ich in China kein Trendthema, sondern eine Generationenaufgabe sehen, sind in Deutschland auch heute noch eine etwas verrückte Spezies.
Etwas von China verstehen zu wollen, ist wie mit Aalen jonglieren. Sobald ich glaube, etwas begriffen zu haben, entgleitet mir die sicher geglaubte Erkenntnis. Dafür hält die Beschäftigung mit China mich beweglich. China ist komplex, Weniges ist tatsächlich so wie es scheint. China ist für Europäer:innen und Chines:innen aus unterschiedlichen Gründen gleichermaßen frustrierend, wir nutzen die Trainingschance für mehr Ambiguitätstoleranz jedoch viel weniger. China ist immer auch Projektionsfläche für das eigene Selbstempfinden. Ohne China geht es nicht. Die großen Probleme unserer Zeit müssen und können mit China gelöst werden. Es ist schwierig, aber es geht. Was wir brauchen, ist Haltung und Fokus.
China per se gibt es nicht
China steht für mich für Lebenslanges Lernen, eine Aufgabe, die ich bis zu meinem Lebensende sinnvoll ausfüllen kann. Was für ein Privileg. Doch ein China per se gibt es nicht. Es gibt einen schier unerschöpflichen Projektionsbauchladen, indem sich die Bewunderung für China oder die Angst vor China befinden, ebenso China als Risiko, als Chance, eine jahrhundertelange Verehrung und eine ähnlich lange Furcht vor dem Land. Es gibt ganze Enzyklopädien, Autobiografien, von Kaisern und Großen Vorsitzenden, es gibt Doktor- und Seminararbeiten, Konferenzprotokolle und Jahrbücher, es gibt Dutzende Provinzen und Verwaltungseinheiten in China, es gibt Regionalküchen, Spelunken und Sternerestaurants, aber ein China als solches ist mir noch nie begegnet. Ich begegne Menschen. Mit Liebeskummer, Überzeugungen, Zahnschmerzen, Fürsorge und Pragmatismus. Ich denke an Sichuan, wo das Familienrezept für die beste Chili-Sauce ähnlich gut gehütet werden dürfte wie die Atomcodes in Peking. Ich denke an die Innere Mongolei, wo die Gastfreundschaft laut und wild ist und nach gekochtem Lammfleisch duftet. An Shanghai, wo die Handbewegungen der Frauen an Zigarettenwerbung der 20er Jahre erinnern. An Peking, wo alte Männer in den Hutongs allen Erziehungskampagnen zum Trotz bauchfrei in der Sonne sitzend zotige Witze reißen.
China ist eine Welt für sich
China ist und wird ein Kaleidoskop widersprüchlicher Eindrücke bleiben. Je mehr ich mich im Land aufhalte, desto schwerer fallen mir die eindeutigen Urteile. China ist eine Chimäre, eine uralte Zivilisation, ein kommunistisch besprenkeltes Kaiserreich, ein Experiment, eine Welt für sich. Wer mit offenen Augen durch das Land fährt, wird mit filmreifen Szenen überschüttet: fuerdai – neureiche Kids – in Guangzhou, hongerdai – Kadersprösslinge – in Peking, uralte Ehepaare auf dem Lastenrad, er fährt, sie thront warm eingepackt auf der Ladefläche; mit Nippes behängte lautstarke Touristengruppen, die mehr mit sich selbst als mit dem Ort beschäftigt kurze Momente der Unbeschwertheit genießen; nachdenkliche Rentner im wunderschönen Park der Tsinghua-Universität, die beim Anblick der fröhlich palavernden Studierendengruppen womöglich an ihre eigene Jugend denken. Vielleicht durften sie gar nicht studieren, vielleicht waren sie zu arm, vielleicht ist der Beobachter aber ein emeritierter Professor, der sich an den Seerosen erfreut und am Bärlauch, der hier wächst und gut schmeckt. Sanwen. Zerstreute Schriften. So zerstreut wie dieser Text. Struktur ist gut, letztendlich führt alles aber doch zu einem Ziel, lohnt sich also die große deutsche Anstrengung der Feinplanung? Endkontrolle – so ein Wort kann nur in Deutschland erfunden worden sein. Wann dürfen wir von einem Ende sprechen? Und wie sehr sind wir wirklich in control?
China steht sich häufig selbst im Weg
In China erlebe ich mich als Mensch intensiver. Das hat sicher damit zu tun, dass ich stärker als in Deutschland auf mich selbst zurückgeworfen bin. Manchmal bin ich mir ein schlechter Begleiter auf den Straßen Beijings. Manchmal freue ich mich an meiner Gesellschaft. In Ningbo bin ich emotionaler als in Nürnberg. Ich kenne kaum gefühllose Chinesen. Was muss das für ein Humor von Menschen sein, die täglich so wenig zum Lachen haben und zugleich so sehr zu Scherzen aufgelegt sind. China ist anstrengend. China steht sich häufig selbst im Weg. China ist Hü und Hott und Hühott auf einmal. Gleichzeitig klar und eindeutig und oft trüber als eine sauer-scharfe Suanlatang-Suppe. China ist atemlos und die Heimat der Meditationsform Qigong. China verspricht einen friedlichen Aufstieg und rüstet auf. China beruft sich auf Reform und Öffnung und macht dicht. China hat die Schrift erfunden und immer weniger können sie schreiben. Ich werde mein Leben lang Zeichen lernen dürfen, wenn ich denn möchte. Auch das ein Privileg.
Chinesen träumen wie wir, vom besseren Leben, weniger Lärm, mehr Geld, von gesunden Körpern und gutem Essen. Die Partei hat das Träumen staatlich verordnet, die nach außen gerichtete Einheitsfront Hand in Hand mit dem innenpolitischen Einheitstraum. Doch lassen sich über eine Milliarde Privatträume so einfach zusammenfassen?
China-Kompetenz ist Deutschland-Kompetenz
Leben und arbeiten in und mit China ist auch ein Arbeiten mit dem eigenen Land. China-Kompetenz ist Deutschland-Kompetenz. Was heißt denn eigentlich so ein Satz wie „In China gelten Verträge nichts“, „In China zählt vor allem Gesicht“ usw. Sind solche Sätze Aussagen über ein anderes Land oder doch eher über die eigenen Bedürfnisse des Sprechers? Sind wir wirklich so anders? Warum ist es uns so wichtig, die Unterschiede zu betonen? Sich mit China zu beschäftigen, heißt also auch, sich mit Deutschland, dem vermeintlich eigenen Land, zu beschäftigen. Wie vertraut kann mir die Bundesrepublik nach Jahren in China überhaupt noch sein? Nirgendwo habe ich so viel über das Land in der Mitte Europas gelernt wie im Reich der Mitte. Unsere Angst, unsere Bequemlichkeit, unseren Eurozentrismus, aber eben auch unsere Demokratie, unsere Vielfalt und Innovationskraft. Unser Privileg, sogar Lust an der Präzision zu entwickeln, unsere Bierkultur und die Schönheit grüner Landschaften. Ich reise mit einem chinesischen Blick durch Deutschland und frage mich oft, was chinesische Freunde und Partner von diesem Sockenladen oder jener Bäckerei mit Marzipan-Pandas halten würden. Wie sie lauthals seufzend auf der Bastei in der Sächsischen Schweiz stehen, sich an einem Hefeweizen im Münchner Englischen Garten erfreuen oder im Römermuseum in Hamm mit kindlicher Freude die Soldatenuniform anziehen. Wie wir abends an der Bar oder auf einem langen stillen Spaziergang plötzlich über Lebensentwürfe und Krisen sprechen, über Zukunftsängste und Vorfreude auf das ungeborene Kind, wie wir gemeinsam weinen und lachen. Chinas globale Rolle ist wie der Klimawandel ein Phänomen, das uns alle angeht: was in der Arktis passiert, genauso relevant wie in Anhui, wo der erste Quantencomputer der Welt steht.
Weniger Nationalstaat, mehr Gemeinschaftssinn
Wir leben im Jahr des Tigers in einer echten Zeitenwende. Wir stehen als Menschheit vor entscheidenden Weichenstellungen. Es stehen Transformationen an, die weniger Nationalstaat und viel mehr Gemeinschaftssinn über alle Grenzen und Kontinente erfordern. Doch die Grenzen werden gerade eher geschlossen als geöffnet. Junge Menschen kommen hier wie dort nicht in den Genuss, ganz eigene Erfahrungen zu machen. Sie erleben nicht wie es ist, in der Fremde auf sich selbst zurückgeworfen und damit auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Fremde, aus denen irgendwann Freunde werden können oder zumindest keine Unbekannten mehr. Die Gefahr neuer Nationalstaaterei und rückwärtsgewandter Blockbildungen ist groß, und eine Welt mit Geschäftsreisen, Besucherprogrammen, Messen und anderen Ausprägungen einer geschrumpften Welt ist in weite Ferne gerückt. Das Einzige, was sich aktuell ungehindert und frei um den Globus bewegt, ist eine Pandemie. Eine Implosion Chinas kann sich die Welt nicht erlauben. Und ein China, dem die Welt egal ist, können sich weder China noch die Welt erlauben. Wir sollten darauf hinarbeiten, dass es wieder Menschen und nicht Viren sind, die reisen. Menschen, die sich begegnen und gemeinsam an Problemen einer Welt arbeiten, in der sich China als Teil einer globalen Gemeinschaft fühlen kann und international selbst ausreichend Verantwortung übernimmt. Dazu gehört auch, dass innerhalb Chinas Grenzen alle Staatsbürgerinnen und -bürger ihr Leben frei entfalten können und die ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt des Landes als Stärke gelebt und gepflegt wird und nicht nur in bunten Werbefilmen am Flughafen oder als Abendshow einer Studiosus-Reise stattfindet.
Mehr als 50 Jahre nach der Mondlandung ist das nächste große Projekt nicht die bemannte Reise zum Mars, sondern die Reise zu uns und der gemeinsame Kampf gegen die Klimakrise, für mehr Natur und mehr Frieden. Auf geht’s und jia you!
Über den Autor
Oliver Lutz Radtke ist Sinologe, Buchautor und Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Beijing. Von 2019 bis 2022 war er Generalsekretär des Deutsch-Chinesischen Dialogforums und als Senior Projektmanager der Robert Bosch Stiftung viele Jahre für Austauschprogramme zwischen beiden Ländern zuständig. Privat betreibt er www.chinglishmuseum.com.