Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Felix Lee


Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr China

Als meine Eltern mich mit vier Jahren das erste Mal mit nach China mitnahmen, um meine Großeltern und Verwandten kennenzulernen, erlebte ich ein Land geprägt von Armut und Mangelwirtschaft. In dem Hofhaus meiner Großeltern gab es weder fließendes Wasser noch Strom. Überall zog es durch die Holzritzen, von der Decke tropfte es. Baumaterial, um die kaputten Stellen zu reparieren, war nirgends zu bekommen.

Mein Vater, der 1949 vor den Kommunisten nach Taiwan geflohen war und später dann zum Studium nach Deutschland ging, erinnert sich: Alles sah hier noch genauso aus wie 30 Jahre zuvor – nur dass alles älter war und heruntergekommen. Unter Mao herrschte 30 Jahre Stillstand. China war Ende der Siebzigerjahre eins der ärmsten Länder der Welt.

Seitdem war ich im Schnitt alle zwei Jahre bei meinen Verwandten in Nanjing zu Besuch. Und jedes Mal konnte ich feststellen, wie es für sie mit dem Wohlstand aufwärts ging. Erst kamen Fahrräder, Transistorradios und elektrisches Licht. Beim nächsten Besuch wohnten sie nicht mehr in ihren heruntergekommenen Hofhäusern aus Brettverschlägen, sondern in Wohnungen in fünfstöckigen Plattenbauten. Dann kamen der Kühlschrank, der Fernseher und die Klimaanlage dazu. Heute fahren meine Cousins E-SUVs, besitzen Eigentumswohnungen, können ihre Kinder zum Studium ins Ausland schicken und sich einen Lebensstil leisten, der sich von meinem in Berlin nicht mehr unterscheidet.

China hat in den vergangenen Jahrzehnten einen Wohlstandsgewinn erlebt, der historisch beispiellos ist. Über eine Milliarde Menschen wurden aus tiefster Armut geholt, ein Drittel von ihnen lebt im bescheidenen Wohlstand. Das Riesenreich ist Exportweltmeister, Technologieführer in der E-Mobilität und zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Allein China war es zu verdanken, dass das im Jahr 2000 formulierte Millenniumsziel der Vereinten Nationen erfüllt wurde, bis 2015 die weltweite Armut zu halbieren.

Und kein anderes westliches Industrieland hat in den vergangenen Jahrzehnten so intensiv zu Chinas wirtschaftlichem Aufstieg beigetragen, zugleich aber auch so sehr profitiert, wie Deutschland. Die Volksrepublik ist Deutschlands wichtigster Handelspartner, das Handelsvolumen ist größer als das mit den USA. Zugleich gab es zwei Jahrzehnte lang kaum nennenswerte Inflation, weil wir spätestens mit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation und damit dem Eintritt in den Weltmarkt so viele Konsumgüter und Dienstleistungen zu günstigen Preisen aus dem Reich der Mitte beziehen konnten, wo ein Millionenheer an Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern in riesigen Fabriken unsere T-Shirts nähten und Elektroartikel zusammenschraubten.

Gleichzeitig hat sich die Volksrepublik zu einem gigantischen Absatzmarkt für deutsche Qualitätsware entwickelt, die dort hochgeschätzt wird. Jeder zweite Volkswagen und jeder dritte Mercedes wird derzeit in China verkauft. Unser heutiger Wohlstand, und der vieler anderer Länder, beruht zu einem erheblichen Teil auf Entwicklungen in der Volksrepublik.

Das spiegelt sich auch im kulturellen und zwischenmenschlichen Austausch wider. Zehntausende Deutsche haben seit Chinas Öffnungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten zeitweise in der Volksrepublik gelebt und gearbeitet, Chinesisch gelernt und das Riesenland in seinen unterschiedlichen Facetten kennen und schätzen gelernt. Noch viel mehr Chinesinnen und Chinesen haben an deutschen Universitäten studiert, bei ihrer Rückkehr nach China für deutsche Unternehmen gearbeitet und fühlen sich weiter eng mit Deutschland verbunden. Der Austausch war also immens. China ist für viele hier kein fernes exotisches Land mehr. Deutschland wiederum für die Chinesen kein Land unter vielen im komplizierten europäischen Geflecht. Deutsche Gründlichkeit, deutsches Management und deutsche Qualitätsarbeit ist für viele Chinesen Vorbild – ebenso die deutsche Gemütlichkeit. Diese 50 Jahre in den deutsch-chinesischen Beziehungen waren eine äußerst gute Zeit. Und was in dieser Zeit an geschäftlichen und persönlichen Beziehungen entstanden ist, sind Freundschaften fürs Leben.

Und doch hat sich in den vergangenen Jahren auch das deutsch-chinesische Verhältnis deutlich eingetrübt. Das hängt mit der weltpolitischen Lage zusammen und nicht zuletzt den zunehmenden Spannungen zwischen China und dem Westen im Allgemeinen. Deutschland ist nun einmal Teil der von den USA politisch dominierten westlich-demokratischen Wertegemeinschaft. Washington betrachtet China inzwischen als seinen Hauptrivalen und fordert seine Verbündete auf, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie künftig stehen wollen.

Doch auch China hat sich unter Staats- und Parteichef Xi Jinping stark verändert. Das Land ist wieder sehr viel autoritärer geworden als es insbesondere in den Nuller-Jahren war. Die Xi-Führung hat vorzeitig Hongkongs Autonomiestatut beendet und damit völkerrechtliche Verträge gebrochen. Sie verletzt Menschenrechte und geht brutaler denn je gegen Tibeter und Uiguren vor, betreibt in Xinjiang sogar wieder Zwangsarbeitslager. Mit ihrem Propaganda-Apparat gibt die chinesische Führung unverhohlen die Parolen aus, dass man auf das Ausland nicht mehr angewiesen sei, schließlich könne man das meiste bereits selbst. Europäern, Amerikanern und selbst Deutschen wird immer deutlicher zu verstehen gegeben, dass sie in China nicht länger willkommen sind. Früher war das Interesse am Austausch groß, und das Bedürfnis, voneinander zu lernen. Heute schürt die Führung Chauvinismus und Nationalismus. Mit seinen Wolfskrieger-Diplomaten ist China auf der Weltbühne nicht mehr der besonnen und bescheiden auftretende Akteur, der sich nicht zu sehr in die Belange anderer Staaten einmischt, wie es einst der große Reformer Deng Xiaoping für sein Land vorgegeben hatte. China ist etwa im Streit um Taiwan und das Südchinesische Meer immer häufiger selbst der Aggressor.

Nicht zuletzt als Reaktion auf diese Entwicklungen ist auch in Deutschland die Stimmung gekippt. China wird nicht mehr als ein quirliges und dynamisches Land gesehen mit unbegrenzten Absatzmöglichkeiten, sondern wird sehr viel stärker als Bedrohung wahrgenommen, mit dem man eigentlich nicht mehr viel zu tun haben möchte. Von „Decoupling" ist auch hierzulande die Rede, einer wirtschaftlichen Entkopplung von China.

Die Angst, sich von einem autoritären Unterdrückerstaat erpressbar zu machen, hat durchaus Berechtigung. Aus wirtschaftlicher Sicht stellt es immer ein Risiko dar, sich einseitig von einem Markt oder Lieferanten abhängig zu machen.

Trotzdem wäre es ein großer Fehler, wenn die berechtigte Kritik an der chinesischen Führung dazu führen würde, die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebauten Beziehungen zu kappen, sich gar von China komplett zu verabschieden. Denn das hätte nicht nur unmittelbar große wirtschaftliche Schäden für sehr viele Branchen in Deutschland zur Folge, ein Decoupling von China würde unserem Wohlstand erheblich schaden.

China ist heute ein globaler Player, bei allen Problemen von weltweiter Bedeutung nicht mehr wegzudenken, sei es bei der Klimakrise, bei der Eindämmung der Pandemie, Handelsfragen, bei der technischen Entwicklung, in der Wissenschaft und bei geopolitischen Fragen, etwa im Umgang mit Wladimir oder den Taliban in Afghanistan. Keine der derzeitigen Krisen lassen sich ohne China lösen. Umso wichtiger ist es, trotz der derzeit schwierigen Beziehungen auch weiter intensiv die zum Teil mühsam aufgebauten Kontakte der vergangenen Jahrzehnte zu pflegen, den Austausch zu fördern und an so vielen Stellen wie möglich, sei es in der Wissenschaft, auf parlamentarischer und auf geschäftlicher Ebene miteinander zu kooperieren und zusammenzuarbeiten.

Denn nichts hält ewig. Auch die derzeitige Führungsriege nicht. Chinas politische Entwicklung der letzten 50 Jahre zeichnet sich von einem ständigen Auf und Ab aus: Mal gab es repressivere Zeiten, mal wurden die Zügel auch wieder deutlich gelockert. Unter Xi Jinping hält diese repressive Phase zwar schon verhältnismäßig lange an. Aber jede Lockerung, jede Öffnung, jedes Entgegenkommen sollte dazu genutzt werden, die Kontakte wieder zu intensivieren.

Umso wichtiger ist es, bestehende Kontakte nicht abzubrechen, sondern in diesen politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten, den kulturellen Austausch zu fördern, die China-Expertise zu stärken und eigene Strategien zu entwickeln, um mit den Herausforderungen mitzuhalten, die mit Chinas vor allem technologischem Aufstieg einhergehen. Wir brauchen also nicht weniger, sondern mehr China in Deutschland. Eine externe Herausforderung ist immer auch eine Chance für uns.


Über den Autor



Felix Lee, geboren 1975 in Wolfsburg, studierte Volkswirtschaft und Politik in Göttingen und absolvierte die Berliner Journalistenschule. Anschließend wurde er Redakteur bei der taz. Von 2010 bis 2019 war er China-Korrespondent in Peking unter anderem für die taz, Zeit Online und der Funke-Mediengruppe. Nun ist er Redakteur bei China.Table. 2011 erschien sein Buch „Der Gewinner der Krise – was der Westen von China lernen kann" und 2014 die Biografie "Macht und Moderne. Chinas großer Reformer Deng Xiaoping".