Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Dr. Volker Stanzel


Zivilgesellschaftlicher Austausch: die andere Seite der deutsch-chinesischen Beziehungen

Das Jahr 1972 war für die Volksrepublik China kein glückliches. Die Kulturrevolution lief weiter auf Hochtouren und die Volkswirtschaft brach in kaum mehr erträglichen Maß zusammen. Außenpolitisch jedoch öffnete sich in diesem Jahr ein Fenster, durch das zum ersten Mal ein Blick in eine andere Zukunft möglich wurde: die jenes Aufstiegs Chinas, an den wir uns heute längst gewöhnt haben. Die Ursache waren geostrategische Überlegungen in Washington und Peking und ein Besuch US-Präsident Richard Nixons in China. Sie lösten eine weltweite Welle diplomatischer Initiativen zur Anerkennung der Volksrepublik durch zahlreiche Staaten im Jahr 1972 aus.

Auch die Bundesrepublik Deutschland war einer dieser Staaten. Anders als anderswo war es kein beamteter Diplomat, sondern ein einfacher Journalist, der den Anstoß gab. Es war Wang Shu, Mitarbeiter der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua, sicher ehrgeizig, sicher verführt von seinem eigenen Einfall, und selbstverständlich parteitreu. Er erzählte mir Jahrzehnte später, welch tastenden Vorgehens es bedurfte, um Peking, aber auch das politische Bonn für solch einen sensationellen Schritt zu gewinnen: zunächst den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags und ehemaligen CDU-Außenminister Gerhard Schröder. Es war also nicht, anders als in Washington, eine große geopolitische Vision, die hinter dieser ersten Annäherung stand. Der Anstoß kam stattdessen dorther, wo wir heute das sehen, was wir Zivilgesellschaft nennen. Das ist ein bemerkenswert außergewöhnlicher Hintergrund für eine Entscheidung, die bald Deutschland und die Volksrepublik zu erfolgreichen Wirtschafts- und politischen Dialogpartnern machen sollte. Bei aller politischen und wirtschaftlichen Entwicklung jedoch, wurde der zivilgesellschaftliche Austausch ein wesentliches und oft kaum bekanntes, auch viel zu gering geschätztes Charakteristikum der Beziehungen zwischen beiden Ländern.

Zehn Jahre nach dem Beginn der Welle diplomatischer Anerkennung war China auf dem Weg von Deng Xiaopings „Reform- und Eröffnungspolitik“. Damit verbunden war auch die Öffnung für vielfältige gesellschaftliche Vorstellungen, die weit von denen Mao Tse-tungs oder von traditionellen marxistischen Visionen entfernt waren. Als Willy Brandt 1984 China besuchte, sah er das Land durch die Brille seiner Ostpolitik. Wenn wir heute von der Illusion des Konzeptes Wandel durch Handel in China sprechen, dann sind die positiven Erfahrungen nicht zu vergessen, die diese Politik in Europa im Umgang mit der Sowjetunion hatte, und die schließlich zum Ende des Kalten Kriegs führten. Sie war vornehmlich getragen durch die Zivilgesellschaft – zu der schließlich auch die Wirtschaft zählt. So sollte es auch in China sein. Es ging nicht nur um politische Reformen – solchen Überlegungen bereitete Deng Xiaoping mit der Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 ein Ende. Es ging auch nicht um regierungsgeführte Fachgespräche. Es ging vielmehr um gesellschaftlichen Austausch in vielfältiger Breite: um Umweltschutz, um künstlerische Begegnungen und gegenseitige Anregungen, ob in der Bildenden oder der Darstellenden Kunst, im Film (die Berlinale wurde bald ein Forum für den neuen chinesischen Film) oder in der Literatur, um Bildung, Wissenschaft und auch soziale Fragen wie die Stellung der Frau in der Gesellschaft.

Bei einer Begegnung – etwa im Jahr 2005 – mit Vertretern verschiedener chinesischer Nichtregierungsorganisationen dort, wo der große Yangtse-Staudamm entstand, legte mir der lokale Parteisekretär in seiner Begrüßung warnend dar, wie sich Nichtregierungsorganisationen der Partei und der Regierung immer wieder in den Weg stellten: geradezu „teuflisch“ seien diese Organisationen; man müsse sich vor ihnen hüten. Allein der Gedanke einer emanzipierten Zivilgesellschaft war der Kommunistischen Partei offenkundig nicht geheuer. Am wenigsten, verständlicherweise, in den Provinzen, wo es immer wieder erfolgreiche Bürgerbewegungen gab, die die Partei vor Ort zu großen Änderungen bürgerunfreundlicher Politik zwangen, etwa bei der Behandlung der Wanderarbeiter oder bei städtebaulichen Problemen.

In der Tat, seit den 1980er Jahren war die selbstorganisierte Zivilgesellschaft in China fast überall erblüht. Wenn hier die deutsche Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle als Partner spielte, dann lag das zunächst an der Existenz unserer Politischen Stiftungen. Ihre Rolle profitiert davon, dass ihre Tätigkeit seitens der Bundesregierung finanziell unterstützt wird und sie daher neben der chinesischen Zivilgesellschaft auch mit staatlichen Stellen zusammenarbeiten; das gibt ihnen einen gewissen schützenden Status, wenn es zu Konflikten über ihre Programme kommt. Vergleichbar ist die Funktion der kulturellen Mittlerorganisationen oder der verschiedenen kulturellen Projekte in China (wie etwa Young European Classics). Seit den späten 1980er Jahren gründeten sich mehr und mehr chinesische Nichtregierungsorganisationen, zumeist vorschriftsgemäß beim Innenministerium registriert, zum Teil aber auch, in der Hoffnung auf laxere Überwachung, beim Handelsministerium. Ihre Zahl stieg bis 2011 (also vor der Machtübernahme durch Xi Jinping) auf über 430 000. Die meisten von ihnen bedurften allerdings der finanziellen Unterstützung durch nichtchinesische Partner – ein Grund mehr für das Misstrauen der Kommunistischen Partei. Das Schicksal des „Deutsch-Chinesischen Dialog-Forums“ zeigt, wie weit dieses Misstrauen geht. Das Forum ist letztlich, wiewohl durch Regierungsvereinbarung konstituiert, eine zivilgesellschaftliche Einrichtung für den freien Meinungsaustausch angesehener Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Bereiche. Tatsächlich ist auf der chinesischen Seite von fehlender offizieller Kontrolle keine Rede – was immerhin regelmäßig zu spannenden Diskussionen führt.

Doch wie sich herausstellte, brauchte die Partei nicht wirklich Furcht vor dem zivilgesellschaftlichen Austausch zu haben. Immer weiter entfernte sich die Wirklichkeit von der Begeisterung des Anfangs der zivilgesellschaftlichen Begegnung zwischen Deutschen und Chinesen. Die andere Zeit begann, als die Tätigkeit der chinesischen und auch der ausländischen Nichtregierungsorganisationen in der Volksrepublik der Kontrolle der Partei zu weit entglitt. Die Führung entschied, dass nur noch ausländische Nichtregierungsorganisationen in China tätig werden durften, die unter dem Schirm einer Regierungsinstitution arbeiteten – ein eingebauter Widerspruch zum Ideal zivilgesellschaftlicher Arbeit. Anfangs fanden sich hier noch pragmatische Wege, allzu strikter Regulierung zu entkommen – alleine schon durch das Maß an Kompetenz, dass für die Arbeit der NGO wichtig, aber in dem betreffenden Ministerium nicht unbedingt vorhanden war. Mit der Übernahme der Macht in Partei und Staat durch Xi Jinping änderte sich jedoch das gesamte Umfeld auch für den Austausch mit den deutschen Partnern rasch. Bezeichnend ist das sogenannte „Dokument Nummer 9“, das im Jahr 2012 als Strategiepapier der Partei beschlossen wurde. Es warnt vor sieben „Problemen“ – so auch einer starken Zivilgesellschaft, die das Fundament der Partei zerstören werde. Damit war der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern die Grundlage entzogen; zudem wurde auch der Zugang zu ausländischer Literatur und zu nicht-chinesischen Medien in den folgenden Jahren strikt eingeschränkt.

Der Grund für dieses Misstrauen und diese Regelungen erschließt sich aus anderen Maßnahmen Xis und aus seinen Äußerungen. Sein erstes Ziel ist die Sicherung der Macht der Partei – etwas wie in der Sowjetunion 1990/91 darf in China nicht passieren. Das bedeutet, dass die Kontrolle der Bürger Priorität vor Chancen für individuelle Entfaltung und Emanzipation haben muss. Selbst in der Wirtschaft ist das Ziel seit 2019, so weit wie möglich autark, mit einem eigenen inner-chinesischen volkswirtschaftlichen Kreislauf die Abhängigkeit vom Ausland und damit auch den Austausch mit dem Ausland zu minimieren. Dass da die Zivilgesellschaft nicht ins Bild passt, liegt auf der Hand. Es ist deshalb erstaunlich und letztlich ermutigend, wie sehr noch immer zivilgesellschaftliche Aktivitäten in China zu beobachten sind. Der Grund ist wohl, dass Chinas Gesellschaft bereits über Jahrzehnte erlebt hat, welches Maß an Kreativität sie freizusetzen in der Lage ist (sehr wohl auch weit links von der Parteilinie, oder nationalistischer und militanter als diese sich äußert). Ohnehin gibt es mit Taiwan eine chinesische Gesellschaft, die den Bürgern der Volksrepublik die Stärke einer originär chinesischen Zivilgesellschaft vor Augen führt. Wenn wir deshalb 50 Jahre nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und der Bundesrepublik Deutschland über deren Zukunft nachdenken, dann tun wir gut daran, unsere Hoffnung auf jenen Anstoß zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu setzen: Er war zivilgesellschaftlicher Natur – neben Handel, Investitionen und dem politischen Geschäft eine tragende Säule in den deutsch-chinesischen Beziehungen.


Über den Autor



Dr. Volker Stanzel, 1979 bis 2013 deutscher Diplomat, u.a. als Botschafter in Peking und Tokio. Seit 2014 lehrt er an der Hertie School und ist im Vorstand des Akademischen Konfuzius-Instituts der Universität Göttingen. Er forscht als Senior Distinguished Fellow in der Stiftung Wissenschaft und Politik und publiziert zu ostasienkundlichen und politischen Themen. Seine letzte Publikation „Rebooting Europe’s China Policy“ (mit Ian Bond, Francois Godement und Hanns Maull) erschien im Mai 2022.