Dr. Oliver Corff
Brücken bauen — aber wie?
Ende der 1970er Jahre war ich zwar bereits ein Jahr an der FU Berlin eingeschrieben, betrieb allerdings mehr ein Studium Generale mit einer breiten Spanne von Fächern und Disziplinen, statt mich auch nur ansatzweise mit dem Schwerpunkt meines späteren lebenslangen Interesses zu befassen: ich belegte Veranstaltungen in Arabistik, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften und Romanistik. Zum Chinesischen kam ich erst auf Empfehlung eines Nachbarn, der (und das entzog sich der Kenntnis des damals 20-jährigen Autors dieses Beitrags) einer der führenden Fremdsprachendidaktiker Deutschlands war: Friedhelm Denninghaus. Er schlug mir vor, es doch einmal mit Chinesisch zu probieren, ich hätte das Talent dazu. Leider hatte ich später keine Gelegenheit mehr, ihn zu fragen, wie er zu dieser Einschätzung gekommen war; die Empfehlung erwies sich dennoch als entscheidender Impulsgeber für Studium und Berufsausübung.
Im Jahre 1981 bestanden die diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China noch keine zehn Jahre; China galt definitiv als ebenso exotisches wie unerreichbares Land. Meine Mutter wollte nicht glauben, dass ihr Sohn zum Studium nach China gehen würde, weil dies in ihren Augen völlig unmöglich sei. Später sollte ihr erst meine erste Postkarte aus China belegen können, dass meine Reisepläne keine Hirngespinste waren. Durch Vermittlung und dank substantieller Unterstützung meines damaligen Lehrers Klaus Stermann wurde es aber tatsächlich möglich, mit einer großen Gruppe Gleichgesinnter an einem Sommerkurs in chinesischer Sprache in Shanghai teilzunehmen, der von der East China Normal University (Huadong Shifan Daxue) angeboten wurde. In meiner Altersgruppe war das Interesse an China groß, allerdings auch eine Modeerscheinung, was möglicherweise eine unmittelbare Folge der noch nicht allzu lange zurückliegenden Studentenbewegung wie auch der von tieferem Verständnis für die dortigen politischen Vorgänge ungetrübten Begeisterung für ein „Neues China“ war.
Im Gegensatz zu vielen Kommilitonen hatte ich zu meinem ersten China-Aufenthalt keine Kamera mitgenommen — auf die Frage, warum, antwortete ich stets: Wenn es mich fesselt, komme ich wieder, und habe dann immer noch Gelegenheit zum Fotografieren. So war es dann auch. Zwei Jahre später begann ich als DAAD-Stipendiat einen zweijährigen Aufenthalt an der Fudan-Universität in Shanghai. Ein anderer Beiträger dieses Bandes, Helwig Schmidt-Glintzer, hatte maßgeblichen Anteil an der Stipendienvergabe, wofür ich ihm hier meinen Dank aussprechen möchte.
Von Anfang an war ich der Überzeugung, dass es mir gelingen könne und müsse, das Chinesische auf dem gleichen Niveau erlernen zu können wie eine westliche Fremdsprache. Niemand denkt sich etwas dabei, wenn jemand im Kaffeehaus am Kurfürstendamm in Berlin Le Monde oder die Times liest; hätte damals jedoch ein Europäer mit der „Volkszeitung“ dort gesessen, so hätte er sie auf den Kopf gestellt halten können, ohne dass es weiter auffiele – und wäre obendrein noch für einen Angeber gehalten worden. Ich wollte einfach die implizite Unterstellung der Unmöglichkeit nicht hinnehmen, wenn ich wieder und wieder gefragt wurde, ob das Chinesische denn überhaupt „erlernbar“ sei. Meine einfache Antwort war und ist: Eine nicht erlernbare Sprache ist bereits ausgestorben, bevor wir sie überhaupt kennenlernen.
Je besser mein Chinesisch wurde, umso zugänglicher wurde mir — über den unmittelbaren Kontakt und Austausch mit chinesischen Kommilitonen und zahlreichen Freunden hinaus auch durch die chinesische Literatur — die chinesische Welt. Vor meinem ersten Chinaaufenthalt hatte ich mich nur mit Mühe durch die akademische Pflichtlektüre der sinologischen Vorlesungen gequält; erst nach der Rückkehr nach Deutschland gewann ich einen viel besseren Zugang zur westlichen sinologischen Literatur. Noch während meines Studiums fing ich an, mich für die Historiographie und ethnische Vielfalt Chinas zu interessieren, und ich vertiefte mich in die berühmten 24 Dynastiegeschichten, die gerade nach und nach als Neuauflagen für wenig Geld im Buchhandel zu erwerben waren. Spätestens hier wurde mir klar: arbeitslos mag ich einmal sein (damals galt Sinologie weithin noch als ausgesprochen brotlose Kunst; nur wenige sahen damals schon die wirtschaftlichen Potentiale, die sie denn auch erfolgreich ausschöpften), beschäftigungslos bis ans Ende meines Lebens nicht mehr. Ein für mich ausgesprochen attraktiver Gedanke.
Bereits während meiner Zeit an der Fudan-Universität wurde ich vom Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig als Ortskraft beschäftigt, wenn der reguläre Dolmetscher seinen Urlaub nahm oder mehr deutsche Delegationen nach Shanghai kamen, als das Generalkonsulat auf einmal betreuen konnte. Daraus entwickelte sich rasch eine Zweigleisigkeit der wissenschaftlichen und der sprachmittlerischen Tätigkeit in offiziellem Kontext, die bis heute besteht und für beide Sphären von großer wechselseitiger Fruchtbarkeit ist.
Hier könnte die Geschichte eigentlich zu Ende erzählt sein, aber der interessante Teil geht erst los. Je besser ich mich in Chinas gesellschaftlichen Normen, seiner Ideen- und Geisteswelt in Geschichte und Gegenwart orientieren konnte, umso deutlicher offenbarten sich mir die Lücken meiner eigenen historischen Kenntnisse über Deutschland und Europa. Ich fing also an, chinesische Literatur (!) über Europa zu lesen. Gleichzeitig stellte ich beim Dolmetschen immer wieder fest, dass die grammatikalisch und lexikalisch korrekte Vermittlung zwischen Deutsch und Chinesisch mit großer Regelmäßigkeit in beiden Richtungen beim ersten Anlauf verständnislos dreinblickende Zuhörer hervorbrachte. Nach und nach wurde mir klar, dass der allein sprachlich vermittelte Sachverhalt längst nicht immer ausreicht, um zu echtem Verständnis zu führen. Zu unterschiedlich sind über offensichtliche Kontextabhängigkeiten hinaus die hinter den Geisteswelten stehenden Koordinatensysteme — der Physiker würde sagen: wer in seinem Inertialsystem ruht, erfährt keine aus Bewegung resultierende Krafteinwirkung. Eine Anekdote möge dies verdeutlichen. Einmal wurde ich von einem Chinesen nach den deutschen Komponisten Bach und Beethoven gefragt und wer denn nun der bessere der beiden sei. Meine Antwort, dass sich hier keine Rangfolge konstruieren ließe, sondern jeder der beiden ein singulärer Vertreter der Musikgeschichte sei, ließ ihn ebenso ratlos zurück wie mich seine Frage. In einer Welt, die grundsätzlich vertikal hierarchisch organisiert ist, ist ein unabhängiges Nebeneinander ohne gegenseitige Vereinnahmung nur schwer vorstellbar, und — wie sich mit Blick in die politische Gegenwart zeigt — manchmal nur schwer hinnehmbar.
Mehr als einmal musste ich allerdings erleben, dass das Angebot einer systemvermittelnden Kommunikation entweder nicht verstanden wurde oder aus Gründen eines wie auch immer begründeten Anspruchs auf letzte Deutungshoheit nicht erwünscht war. Das heißt trotzdem nicht, dass der Dolmetscher (der nicht ohne Grund auf Englisch „interpreter“ heißt) den Dolmetschprozess frei interpretierend gestalten darf, aber er sollte in die Vor- und Nachbereitung von Treffen (Briefing und Debriefing) konstruktiv einbezogen werden. Meine durchgängige Erfahrung ist, dass diejenigen Auftraggeber, die diesen Mehrwert erkannten, darauf nicht mehr verzichten wollten.
Während in Alltagsdingen die Stolpersteine für Missverständnisse meistens harmloser Natur sind, nahmen fundamentale Widersprüche in bilateralen Fragen des Zivil-, Straf- und Verwaltungsrechts, des Völkerrechts, der Sicherheitspolitik, last but by far not least der Wirtschaft („vom Meister lernen“ — oder doch einfach banal: Produktpiraterie?) erst mit großer Verzögerung greifbare Gestalt an. Sie manifestieren sich oft erst, wenn es eigentlich schon zu spät zum Gegensteuern ist. Diese Widersprüche spielten so lange keine große Rolle, wie sich die bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China dynamisch entwickelten und das ständige Wachstum des bilateralen Handelsvolumens als der zentrale Messwert für die Qualität der bilateralen Beziehungen verstanden wurde; ein Verständnis dafür, dass mit der quantitativen Veränderung auch fundamentale qualitative Veränderungen auf der eigenen Seite einhergingen, war längst nicht immer gegeben.
Zurück zu den Koordinatensystemen oder Referenzrahmen. Mir ist immer schwergefallen, mit stoischer Miene zu dolmetschen, wenn das Germanenbild des Tacitus, schon damals ein Propagandaprodukt, im interkulturellen Vergleich beim Tischgespräch als Deutschlandbild herhalten sollte. Hier offenbart sich ein anderes, grundlegendes Missverständnis: China ist nicht nur ein Nationalstaat, sondern in seinem gesamten Selbstverständnis, seiner Schriftlichkeit und seiner Geschichtlichkeit eine der großen Zivilisationsprovinzen der Welt, die in diesem speziellen Falle noch dazu beinahe deckungsgleich mit dem Verbreitungsgebiet der chinesischen Schrift ist. Der Nationalstaat ist daher ein ungeeigneter Bezugsrahmen für Vergleiche zwischen Deutschland und China. Angemessener ist es, statt nur auf Deutschland auf Europa in seiner Gesamtheit zu schauen. Ohne eine Achsenzeit im Sinne Jaspers’ und seiner gedanklichen Vorgänger (u.a. des französischen Orientalisten Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron und des französischen Sinologen Jean-Pierre Abel-Rémusat) konstruieren zu wollen, ist doch augenfällig, dass die großen griechischen Philosophen, deren Wirken unser Denken bis heute prägt (ich nenne nur Aristoteles und die schlechthin wissenschaftsgründende, oft nach ihm benannte klassische Logik), in enger zeitlicher Nähe zu den großen chinesischen Philosophen lebten, deren Wirken bis heute fortdauert, ohne dass jeder Chinese ihre Werke gelesen haben muss. Die Koordinaten unserer Denksysteme umfassen ähnliche zeitliche wie räumliche Dimensionen. Altgriechisch und Latein prägen bis heute sprachlich große Teile Europas, wie auch klassisches Chinesisch das moderne Chinesisch bis heute formt, man aber hier wie dort ein eigenes Studium braucht, um diese Ursprünge verstehen zu können. Auch die materielle Kultur der europäischen Bronzezeit hat Wunderwerke der Handwerkskunst hervorgebracht — nur käme niemand in Europa auf die Idee, diese Werke als „deutsch“ (oder „französisch“ o.ä.) zu bezeichnen; zwar wird der moderne Fundort angegeben, aber die Gegenwart nicht in die Vergangenheit extrapoliert. Insofern ist im Bemühen um den Dialog zwischen Deutschland und China eigentlich immer der Imperativ der Besinnung auf Europa enthalten und mitzudenken.
Die Covid-19-Pandemie war nicht nur mit einem globalen Paukenschlag ursächlich für eine umfassende Unterbrechung der zahlreichen Gesprächsmechanismen zwischen Deutschland und China, sondern wirkte darüber hinaus gleichsam als Katalysator: zahlreiche, bis zum Jahr 2019 als unvermeidlich hingenommene Friktionen und Widersprüche wurden plötzlich völlig neu betrachtet und entfalten nun eine vorher nicht gekannte Eigendynamik, die sich quer durch alle Politikfelder zieht und längst nicht auf Deutschland beschränkt ist, sondern sich im Kontext globaler Systemwidersprüche entfaltet.
Der Blick zurück wie auch auf 50 Jahre deutsch-chinesischer diplomatischer Beziehungen zeigt deutlich, dass es in der Geschichte keine Endzustände gibt. Umso mehr ist das Ringen um Verstehen als Quelle souveränen Handelns eine nationale Aufgabe, ohne dass daraus immer sofort greifbare Lösungen erwachsen. Staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Dialog, gerade in herausfordernden, eher konfliktbeladenen als harmonischen Zeiten, ist zugleich Ziel, Mittel und Zweck, um mit Worten von Clausewitz zu schließen.
Über den Autor
Oliver Corff, geboren 1958 in Leipzig. 1980–87 Studium der Sinologie an der Freien Universität Berlin und der Fudan-Universität in Shanghai. 1987–90 Forschungsaufenthalt am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Tokyo. 1992 Promotion. Oliver Corff spricht chinesisch, japanisch und mongolisch und ist u.a. als Dolmetscher (seit 2002 für Kernressorts der Bundesregierung) und Wirtschaftsberater tätig; außerdem Experte für chinesische Militärpolitik. Herausgeber und Autor zahlreicher Publikationen. Träger der Kublai-Khan-Medaille der Akademie der Wissenschaften der Mongolei und des Clausewitz-Preises der Stadt Burg (beide 2015).