Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Dr. Nora Frisch


Gemeinsamkeiten entdecken

Als ich zu Beginn der 1990er Jahre als Sinologiestudentin erstmals nach Peking kam, wurde ich im täglichen Umgang mit den Menschen darauf aufmerksam, wie wenig ich – selbst nach zweijährigem Studium der Chinawissenschaften in Wien – über Land und Leute tatsächlich wusste.
Und auch umgekehrt schien das der Fall zu sein. Immer wieder begegnete ich Fragen wie diesen: Europa? Liegt das in Amerika? Habt ihr dort schon Kühlschränke? Gibt es da Autos?

Während ich auf vielen Reisen durch das riesengroße Land einen Eindruck davon bekam, wie unglaublich vielfältig die Kultur ist und wie anders die Menschen teilweise denken, kommunizieren und interagieren, setzte Mitte der 1990er Jahre – zunächst in Chinas Metropolen – ein komplementäres enormes Interesse an allem »Westlichen« ein.

Diese regelrechte Gier der Chinesinnen und Chinesen nach Ideen und Gütern aus dem Westen spiegelte die später zensierte, sechsteilige chinesische Dokumentationserie »Heshan« (»Flusselegie«) von Wang Luxiang wieder. Sie wurde 1988 erstmals auf dem staatlichen Sender CCTV ausgestrahlt und suggerierte mit plakativer Farbsymbolik, dass eine Modernisierung des durch Mao Zedongs Kulturrevolution in Stagnation geratenen Lebens nur durch Öffnung und Austausch mit dem fortschrittlichen Westen und Japan (hier war die Bildsprache vornehmlich in Blau gehalten) stattfinden könne. Das konservative Festhalten an Traditionen und am aktuellen politischen System (diese Bilder erschienen in Gelbtönen) wurde hingegen als »kulturell rückschrittlich« und als Hauptursache für die sozialen Probleme jener Zeit dargestellt.

1992 erlebte ich, wie die ersten Filialen amerikanischer Fast-Food-Ketten in Peking einzogen – die Menschen standen in Abendrobe kilometerlang Schlange – es folgten französische Bäckereien, Wiener Cafés, Designerläden. Die Fahrräder wurden von Autos westlicher und japanischer Marken verdrängt.

Zeitgleich setzte in den USA und in europäischen Ländern, darunter auch in Deutschland, eine regelrechte Goldgräberstimmung ein. Jenseits der Nutzung Chinas als »Werkbank der Welt« erkannte man den riesigen Absatzmarkt, den Chinas wachsende Mittelschicht für Produkte aller Art bot, nachdem Deng Xiaoping für aufstrebende Städte wie Guangzhou, Shenzhen oder Shanghai die Parole »Reich werden ist ehrenhaft« verkündet hatte.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Chinas und dem hochfrequenten Miteinander zwischen den Handelspartnern ging auch stets ein reger Kulturaustausch, ein gegenseitiges »Kennenlernen« – »Völkerverständigung« im besten Sinne – einher: Austauschstudenten kamen nach Deutschland und gingen nach China, zahlreiche deutsche Schulen und sogar Kindergärten nahmen Chinesisch als Fremdsprache in ihr Programm auf, sinologische Institute mussten wegen des großen Andrangs neue Räumlichkeiten anmieten, Musiker reisten zu Konzerten um die halbe Welt. Fertigkeiten wie Taiji, Qigong, Kalligrafie oder der richtige Ablauf einer Teezeremonie wurden immer stärker nachgefragt. Man entdeckte die chinesische Philosophie, internationale Kunstsammler interessierten sich für chinesische Künstler, Ausstellungen wurden veranstaltet, chinesische Feste gefeiert, Chinastammtische eingerichtet und chinesische Autoren waren gefragt wie noch nie. Es war eine gegenseitig bereichernde Zeit.

Und jetzt der Wandel. Was ist inzwischen geschehen? Was hat diesen Wechsel vom interessierten, unbefangenen Austausch zu Skepsis und Misstrauen bewirkt? Darauf kann nur vielschichtig geantwortet werden. Eine der zentralen Antworten lautet, dass der welthistorisch einmalig schnelle Aufholprozess der chinesischen Wirtschaft im Westen starke und auch berechtigte Abstiegsängste ausgelöst hat.

Seit Maos Tod (1976) bis zum Jahr 2017 hatte die Kommunistische Partei alle zur Verfügung stehenden Kräfte vorrangig darauf konzentriert, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückständigkeit Chinas zu beheben, um den wachsenden materiellen und kulturellen Ansprüchen des Volkes gerecht zu werden und die gleichermaßen gewachsenen Bedürfnisse nach Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gerechtigkeit, Sicherheit und Umweltschutz zu erfüllen.

Mit dieser Haltung war die Volksrepublik zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt hinter den USA aufgestiegen. Während Deng Xiaopings Außenpolitik noch auf der Maxime des »Verbergens der eigenen Macht« beruht hatte, hat die derzeitige fünfte Führungsgeneration unter Xi Jinping einen Kurswechsel unternommen und begonnen, die neue ökonomische Macht auch zu zeigen. Nun lautete die Maxime selbstbewusst: »Nach Erfolgen streben«. Die »Belt and Road Initiative« gilt als Vorzeigeprojekt des neuen Kurses. Es forciert den Aufbau chinesisch geführter Industriezonen und militärischer Stützpunkte, die Einflussnahme auf die Gestaltung von Institutionen, Organisationen und Standards. Langfristig geht es um die Ausweitung der eigenen politischen Einflusssphären, um den Aufbau von Softpower und um das das daraus erfolgende Bestehen in der amerikanisch-chinesischen Rivalität.

Chinas forsches und selbstbewusstes Auftreten ist für den Westen neu. Immer mehr wird seither das Riesenreich als Konkurrenz, Systemrivale und damit als Bedrohung wahrgenommen. Und das ist vonseiten der chinesischen Regierung auch durchaus gewollt. Während der eigene Einfluss ausgeweitet wird, warnt man Kritiker davor, sich in »interne Angelegenheiten« einzumischen.

Dennoch: Statt China pauschal zu verdammen, wie es in den Medien häufig geschieht, wäre es klug, China-Kompetenz aufzubauen und sich eingehender mit dem Land zu beschäftigen. Es wäre an der Zeit, zu differenzieren und die Handlungen der KP von jenen der Bevölkerung zu trennen.

Es gibt zahlreiche Menschen in China, die sich keineswegs von »Papa Xi« in idealer Weise vertreten fühlen. Doch ihre Stimmen finden außerhalb der chinesischen Firewall kein Gehör. Wir sollten versuchen, sie wahrzunehmen.

Chinas Aufstieg müsste zudem nicht grundsätzlich als bedrohlich wahrgenommen werden, denn was der eine gewinnt, muss der andere nicht zwangsläufig verlieren. Interessant sind für den Rest der Welt vor allem die zunehmenden ideologischen Übergriffe, die mit der wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Macht einhergehen.

»Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten« – dieses bekannte Zitat aus »Die Kunst des Krieges« klingt martialisch, aber die Weisheit des großen Strategen Sunzi lässt sich auch im interkulturellen Kontext anwenden: Nur wer sein Gegenüber mit all seinen Stärken und Schwächen gut kennt, verliert die Angst vor ihm und kann die tatsächlichen Gegebenheiten realistisch einschätzen.

Selbstverständlich werden wir die Interna der aktuellen Regierungsspitze, die uns vielleicht noch Jahrzehnte erhalten bleibt, niemals genau kennenlernen. Aber Angesichts der weltpolitischen Lage wäre es angebracht, vermehrt Kulturaustausch mit China zu betreiben. Gerade mit so starken und gleichzeitig als so kritisch wahrgenommenen Ländern ist dies aktuell wichtiger denn je, will man größere Krisen nachhaltig verhindern.

Es wäre wünschenswert, wenn Institutionen, die sich dem Dialog mit China verschrieben haben, unterstützt und nicht diskreditiert würden. In letzter Zeit werden etwa zahlreiche China-Institute häufig mit schlechter Presse bedacht – ohne, dass darauf geachtet wird, was diese Einrichtungen auf dem Gebiet des Kulturaustauschs tatsächlich leisten. Auch wenn sich Deutschland und deutsche Institutionen chinesischen Zensurvorgaben ruhig selbstbewusster entgegenstellen dürfen – immerhin sind wir ein freies Land – ist es (für beide Seiten) von großem Nachteil, wenn mit der Schließung solch wichtiger Einrichtungen ein Kommunikationsstrang gekappt wird.

Denn Austausch gelingt nicht nur über Handelsbeziehungen, sondern vor allem über Kultur. Weiß man nicht, wie die Spielregeln in einem fremden kulturellen Kontext lauten, tritt man leicht ins Fettnäpfchen und zerschlägt unnötigerweise Porzellan. Über kulturellen Austausch, zum Beispiel über Literatur, lassen sich tiefe und wertvolle Einblicke in die Mentalität und Denkweise, die in einem Land herrschen, gewinnen.

Dass wir Sinologen, Politiker, China-Experten oder Handelspartner uns mit Menschen in und aus China austauschen, heißt noch lange nicht, dass wir mit jeder Entscheidung oder Vorgehensweise chinesischer Staatsmänner und -frauen einverstanden sind. Das sind wir nicht.

Wir sind gegen Gewalt. Wir sind dagegen, dass Menschen willkürlich interniert, gefoltert oder getötet werden. Wir sind gegen Totalüberwachung. Wir sind für Datenschutz. Wir sind gegen die Todesstrafe. Wir sind für menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Wir sind für Redefreiheit und gegen Zensur. Wir sind gegen Tierquälerei. Wir sind gegen eine nicht nachhaltige Ausbeutung von Ressourcen. Wir sind gegen Umweltverschmutzung.

Wir sind für ein friedliches Miteinander in einer gerechten, lebenswerten Welt.

Unsere Werte – »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« und »Grün ist das neue Gold« – sollten wir unseren Gesprächspartnern vermitteln, in der Hoffnung, dass sie als Anstoß und Inspiration dienen können. Wahrscheinlich aber stellen wir erstaunt fest, dass viele Chinesinnen und Chinesen viele unserer Werte und Ansichten durchaus teilen und es weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen gibt.

Solche Erfahrungen sind aber nur möglich, wenn wir mit ihnen sprechen – und ihnen auch zuhören.

Überzeugungsarbeit auf beiden Seiten erfordert Respekt, Vertrauen und viel Zeit. Das zu investieren lohnt sich: Austausch bedeutet immer auch Horizonterweiterung. Es lässt sich viel voneinander lernen – nicht zuletzt, indem man die eigenen Einstellungen hinterfragt, auf den anderen zugeht und sich im Idealfall bei der Lösung der großen Aufgaben dieser Zeit – Klimaschutz und nachhaltiges Wirtschaften, Beseitigung von sozialem Unrecht und Beendigung von Kriegen zur Vermeidung von Flüchtlingskrisen – ergänzt.

Immerhin: Eine sehr präzise Anleitung zum Weltfrieden wurde bereits 1890 von dem chinesischen Philosophen Kang Youwei verfasst. Dieses Ziel zu verfolgen, wäre ein guter Anfang für ein gemeinsames Projekt.


Über die Autorin



Dr. Nora Frisch, geboren in Wien, studierte Sinologie und Musikwissenschaften in Wien, Peking, Taipeh und Heidelberg. Sie arbeitete als Werbetexterin, wissenschaftliche Assistentin und baute eine Freie Schule auf. Nach der Promotion im Fach Moderne Sinologie gründete Nora Frisch im Oktober 2010 den Drachenhaus Verlag.

Hiermit baut die Verlegerin, Autorin und Übersetzerin Brücken zwischen China und dem deutschsprachigen Raum, indem sie Chinas lange Geschichte, Kultur, Traditionen und den modernen Alltag in schön gestalteten Büchern Lesern jeden Alters zugänglich macht.