Dr. Nadine Godehardt
Sprache und Kontext
Drei Jahre war ich nicht mehr in dem Land, das ich seit knapp 20 Jahren versuche zu verstehen. Bis dahin bin ich fast jedes Jahr nach China gereist. Seit meiner ersten Be-gegnung mit der chinesischen Gesellschaft, Kultur und Sprache ist dies der längste Zeit-raum, in dem ich ohne persönliche Eindrücke China analysiere. Dazu kommt die Unge-wissheit darüber, wann Forschungsreisen ohne Quarantäne wieder möglich sein werden und wie Forschung vor Ort, also Gespräche mit chinesischen Kolleg*innen, Konferenz-teilnahmen, Lernen, Lehren und Reisen in China, dann ablaufen werden. Ich ertappe mich oft bei dem Gedanken, dass China heute viel weiter von mir entfernt ist als zu Be-ginn meiner Studienzeit. Dabei war ich damals völlig unvorbereitet auf dieses unfassbar komplexe, spannende und oftmals auch verstörende Land.
Als einer von vielen Menschen auf dieser Welt, der mit einer Rechtschreibschwäche zu kämpfen hat, und für den „richtig schreiben“ schon in der Muttersprache nur mit viel Mühe, Ausdauer, und Geduld überhaupt möglich war, ist es eine zusätzliche Einschrän-kung nicht mehr direkt vor Ort sein zu können. In all den Jahren, in denen ich in die Be-schäftigung mit China hineingewachsen bin, habe ich meine größten Lernsprünge im-mer vor Ort gemacht. Sprache und Kontext, Bild und Text, beides gehört für meinen Kopf zusammen. Ein Teil von mir muss sich in eine Situation hineinfühlen, um bestimmte Aussagen schlichtweg einordnen zu können. All das fehlt gegenwärtig und beeinträch-tigt – je länger dieser Zustand anhält – auch die Art und Weise wie ich als Forscherin auf China blicke, gesellschaftliche oder politische Diskurse einordne und analysiere.
In den Jahren, in denen ich regelmäßig in China unterwegs war, habe ich neben meiner Forschungstätigkeit viele persönliche Erlebnisse aufgeschrieben. Mittlerweile ist dies zu einer losen Sammlung von Gedanken, Gedichten und Geschichten angewachsen. Sehr typisch für Menschen mit Schreibschwäche geht es vor allem darum, zu schreiben, ohne dabei zu denken. Mit anderen Worten: es geht um intuitives Schreiben, durch das die Angst vor dem Schreiben und den eigenen Fehlern über die Zeit mehr und mehr ab-nimmt. Das Spektrum meiner Beschäftigungen mit China umfasst daher einerseits mei-ne ganz persönlichen Gedankenspiele und andrerseits meine Tätigkeit im professionel-len Kontext. Die beiden folgenden Texte spiegeln diese Vielfalt wider.
Über Peking und Berlin (Herbst 2014)
In Peking begegne ich Vielen und Keinem. Dort laufe ich ohne Fixpunkt durch die Stadt. Bin nicht Teil von irgendwem oder irgendwas und fühle mich doch verbunden. Bei Nacht und in der Dunkelheit sehe ich wie die Arbeiter*innen bei provisorisch aufgebau-ten Garküchen billiges Essen kaufen. Sie sind müde, erschöpft, einsam, und wollen ein-fach nur sitzen und essen. Ich sehe wie Menschen mit Decken aus Lkw-Plane eingewi-ckelt auf der Suche nach einem Schlafplatz umherziehen, bis sich niemand mehr darum kümmert, dass es sie gibt. An der nächsten Ecke lande ich in einem der vielen Pekinger Spätis, kaufe ein Bier und ziehe weiter. Es ist Herbst, doch die Blätter sind nicht bunt, sondern staubig. Hier hat alles einen Grauschimmer, selbst die Dunkelheit. In Berlin würde ich niemals durch diese Straßen ziehen, bei Nacht, alleine, hier bin ich jemand, der nicht gefährlich werden kann, der egal ist, den man getrost ignorieren kann. Was mache ich hier? Ohne ihn, sie, uns laufe ich durch die Stadt und rieche mich in dieses Leben. Ein Leben im Jetzt, ohne Fixpunkt, ohne Fallenlassen, ein Leben bis morgen früh.
Ich vermisse Berlin und doch laufe ich durch diese Stadt und sehe in ihr auch etwas von Berlin. In Peking wird auch ständig gebaut, abgebaut, neu gebaut, allerdings auch umgesiedelt und ausgesiedelt. Ständig muss diese Stadt sich neu erfinden. Ich denke an diejenigen, die für 2 Yuan den ganzen Tag Metro fahren, nie aussteigen, schlafen, son-dern in der U-Bahn leben bis sie schließt und dann irgendwohin verschwinden bis die Türen wieder öffnen. Um zu sehen, was es eigentlich nicht gibt, muss ich doch eine gan-ze Weile herumfahren. Diese Orte, die niemals Heimat werden und doch Heimat sind. Orte, die wehtun. Es gibt sie von Berlin bis Peking, und ich muss über die Idee, Träume leben zu können, laut lachen. Vielleicht sehen wir alle diese Nischen woanders, um dann zu begreifen, was wir gut festhalten müssen und wieviel es wert ist, Heimat, Fix-punkte oder Routinen zu kennen und sich darauf auch noch verlassen zu können. In Peking weiß ich nur, es ist Herbst – auch hier.
China 2030 (2018) 1)
Im Oktober 2018 war ich an der Pekinger Fremdsprachenuniversität und habe einen Kurs über Geopolitik angeboten. Schon damals war es nicht ganz einfach, eine Diskus-sion zwischen den chinesischen Student*innen über dieses Thema zu entfachen. Eine Aufgabe des Kurses bestand daher darin, eine fiktionale Geschichte über die Zukunft Chinas im Jahr 2030 zu verfassen und in der Gruppe zu diskutieren. Vier Gruppen, vier Texte, vier unterschiedliche Perspektiven. Gemeinsam ist den Texten der Fokus auf die digitale Technologisierung aller Bereiche der chinesischen Gesellschaft. Darüber hinaus geht es darin direkt oder indirekt immer auch um die Loyalität der Protagonisten – entweder gegenüber einer Regierung oder einem Unternehmen. So zum Beispiel in der Vision über die Allmacht eines Alibaba-ähnlichen Unternehmens und die Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben. Dieses Unternehmen kontrolliert im Jahr 2030 die chinesische und globale Digitalwirtschaft. Erzählt wird die Geschichte eines Mitarbeiters, der aufgrund des Berichtes über seine zehnjährige Tätigkeit in der Firma befördert und in die sonderbare Abteilung „Sonderservices“ versetzt wird. Entschei-dend dafür war allerdings nicht seine Fähigkeit, kritisch zu denken (0 von 100 Punkten), sondern seine Loyalität (100 Punkte), da er „nie Befehle hinterfragt hat“. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass diese Abteilung willkürlich Taobao-Konten benutzt hatten, um „Prominenten“ [gemeint, so scheint mir, sind Kader, N.G.] dabei zu helfen, „ihre illegalen Einkommen zu legalisieren“. Als dies dem Mitarbeiter auffiel, hielt er den Mund und machte einfach weiter trotz seines Unbehagens.
Eine andere Erzählung handelt von Herrn Qian, der wegen Steuerhinterziehung zehn Jahre in einem Shenzhener Gefängnis saß und „in Sträflingskleidung“ auf Feldern „Un-kraut jätete“. Jetzt ist er mit der intelligenten Stadt Shenzhen konfrontiert, in der er sich kaum zurecht findet aufgrund von selbstfahrenden Autos, Solar-Energiesparhäusern, allgegenwertigen Scannern, die persönliche Informationen speichern oder Türen, die nur noch mit Spracherkennung öffnen. Die Arbeitssuche funktioniert nur noch über kodifizierte Qualifikationen (1 bis 100 Punkte). Dabei werden die Punktzahlen der Be-werber*innen automatisch generiert, Bewerbungsgespräche im klassischen Sinne sind nicht mehr notwendig. Bei Herrn Qian ist die Loyalitätsquote aufgrund seiner Vergehen im Jahr 2018 sehr niedrig, und auch sein Gefängnisaufenthalt hat diese kaum verbes-sert. Da er aber erst 40 Jahre alt ist und alle anderen Bewerber*innen deutlich älter sind, bekommt er den Job. Auflage ist, dass er jede Woche einen Loyalitäts-Test macht. Mit diesen regelmäßigen Tests kann er dann nach und nach seine Punktzahl erhöhen. Herr Qian ist erleichtert, und fasst neue Hoffnung. Mit solch einer Chance hat er nicht mehr gerechnet, deshalb „möchte er lernen, sich an diese neue Stadt und ihre neuen Technologien anzupassen“.
Heutzutage ist es kaum vorstellbar, als Ausländerin überhaupt noch einen Kurs zum Thema Geopolitik an einer chinesischen Universität unterrichten zu können. Höchst-wahrscheinlich würden chinesische Student*innen heute auch ganz andere Texte schreiben. Denn die Zukunftsvisionen von 2018 waren durchaus kritisch, wenn auch gleichzeitig in gewisser Weise loyal. Sie spiegelten ganz spezifische Ängste und Sorgen der Student*innen wider. Vor allem aber thematisieren sie den Respekt vor dem Leben, das sie nach der Universität erwarteten würde: ein Leben im System.
Was mich an diesen Erlebnissen und Gedanken erstaunt, ist, dass ich in all meinen Auf-enthalten nie nur das China gesehen habe, das ich sehen sollte. Es war immer mehr. Und meine größte Sorge ist, dass selbst wenn es für mich wieder möglich ist nach China zu reisen, genau das nicht mehr sichtbar ist. Das wäre nicht nur ein herber persönli-cher Verlust. Viel schlimmer: wenn Forscher*innen nur noch Fassaden sehen dürfen und analysieren können, welche Aussagen können wir dann wirklich noch über die Zu-kunft Chinas und die deutsch-chinesischen Beziehungen machen?
1) Zitate aus den Originaltexten der Student*innen sind gekennzeichnet.
Über die Autorin
Dr. phil. Nadine Godehardt ist seit 2013 Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissen-schaft und Politik (SWP) in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Diskurse der chinesischen Außenpolitik, Globale Konnektivität und Geopolitik, sowie Auswirkungen von Chinas Aufstieg auf die Weltpolitik. Studium der Poli-tikwissenschaft, Philosophie, und Sinologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Promotion über die chinesische Politik gegenüber Zentralasien sowie die Konstitution von politischen Regionen an der Universität Hamburg. Forschungs- und Lehraufenthalte an der Nanjing Uni-versität, der Peking Universität, der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (CASS), der China For-eign Affairs University (CFAU) sowie der Beijing Foreign Studies University (alle VR China).