Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Dr. Mikko Huotari


Getting China right: Eine „kurze Dekade“ der Chinaanalyse und -beratung unter neuen Vorzeichen

Der (Wieder)Aufstieg Chinas ist eine der folgenreichsten Entwicklungen der neueren Weltgeschichte mit weitreichenden Auswirkungen auf das globale Machtgefüge, Wohlstand in Deutschland und Zusammenhalt in Europa. Verankert in einem Tiefenverständnis von Chinas Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, begleiten die etwa 20 Expert:innen des Mercator Institute for China Studies (MERICS) diese Entwicklung kritisch und prägen die internationale Chinadebatte mit.

Seit Ende 2013 verfolgt das Institut die Mission, differenzierte Chinaanalyse in der Öffentlichkeit und für Handlungsträger in Deutschland und Europa bereitzustellen. Alleine in dieser kurzen Dekade, den letzten zehn von nunmehr 50 Jahren deutsch-chinesischer Beziehungen, hat sich China, die globale Rolle der Volksrepublik und ihr Verhältnis zu Europa dramatisch verändert.

Die folgenden „Schlaglichter“ auf Flaggschiff-Publikationen (MERICS Paper on China) des Instituts bilden diesen Wandel ab und zeigen dabei auch die Herausforderungen, vor denen deutsche Chinapolitik in den nächsten Jahren stehen wird.

  • 2015: In der Studie „Preparing for a New Era of Chinese Capital“ (2015) publizieren MERICS und Rhodium Group Autoren erstmals zu den europäisch-chinesischen Investitionsbeziehungen. Noch bevor das Thema mit dem rasanten Anstieg chinesischer Investitionen in Deutschland und Europa prominent wurde, identifiziert die Studie Chancen, Herausforderungen und Handlungsoptionen für europäische Stakeholder. Heute wird nach der Einführung weitreichender Investitionsprüfungen auf EU-Ebene bereits diskutiert, ob Deutschland und Europa wie andere gleichgesinnte Staaten, nicht auch eine verstärkte Kontrolle von Investitionen in China bräuchten.
  • 2016: In der Studie „China‘s Core Executive“ beobachten MERICS-Kolleg:innen und führende internationale Chinaexpert:innen frühzeitig die innenpolitischen Verschiebungen in Staat und Partei unter Xi Jinping, die bis heute drastische Folgen haben. Die Dynamik der chinesischen Politik hat sich seit der Einsetzung der neuen Partei- und Staatsführung unter Xi Jinping nach 2012 und 2013 erheblich verändert. Die Entscheidungsgewalt hat sich auf neu geschaffene zentrale Parteiorgane verlagert. Politische Disziplin und Loyalität wurde durch ungewöhnlich intensive und anhaltende Kampagnen durchgesetzt. Am 16. Oktober 2022, nur wenige Tage nach dem deutsch-chinesischen Jubiläum, kommt dieser Prozess zu einem Kulminationspunkt, wenn Xi Jinping seine „dritte Amtszeit“ antritt, um seine politische und ideologisch aufgeladene Agenda weiter zu verfolgen.
  • 2016: Mit den Studien zu „Made in China 2025“ (2016/2020) publizierten MERICS-Forscher:innen nicht nur weltweit die erste umfassende und stark rezipierte Studie zu dieser wegweisenden industriepolitischen Strategie Pekings. Sie legen auch den Grundstein für eine systematische Beobachtung von Chinas industriellen Innovationsplänen seither und ihren Implikationen für europäische Wettbewerbsfähigkeit. Die innovationszentrierte Entwicklungsstrategie Chinas stellt dabei heute neue Herausforderungen an internationale Partner: Welche Formen der Forschungs- und Technologiezusammenarbeit sind tragfähig? Wie kann Europa auf neue Marktverzerrungen durch den „incubator state“ China reagieren?
  • 2017: Mit dem Bericht “China’s Emergence as a Global Security Actor” liefert MERICS die erste umfassende europäische Analyse von Chinas Aufstieg als globaler Sicherheitsakteur und den Implikationen für Europa. Mit der Ankündigung der “Global Security Initiative” im Jahr 2022, dem sich zuspitzenden Konflikt um Taiwan und Chinas strategischer Solidarität mit Russland im Ukraine-Krieg ist klar, dass China heute auch ein direkter sicherheitspolitischer Faktor für Europa geworden ist.
  • 2018: Gemeinsam mit dem Global Public Policy Institute (GPPI) analysieren MERICS-Mitarbeiter*Innen in der Studie “Authoritarian Advance” Chinas politische Einflussnahme in Europa. Die Studie wird im In- und Ausland vielfach als Referenzpunkt für weitere Analysen aber auch als Anlass für institutionelle Veränderungen genommen. In der Corona-Pandemie hat sich noch einmal herausgestellt: Europa muss sich in einem weltweiten „Battle of narratives“ und im Umgang mit hybriden und Cyber-Bedrohungen auch aus China stärker aufzustellen. 
  • 2019: Auf der Basis einer Studie für den Inhouse Think Tank der Europäischen Kommission (European Policy and Strategy Center), die Ende 2018 gemeinsam mit der Digitalkommissarin vorgestellt wurde, beschreibt MERICS in „China’s Digital Rise“ den Aufstieg Chinas als Digitalmacht und legt den Grundstein für Folgeanalysen zu Chinas Plattformökonomie, Blockchain und Open Source Technologie, KI-Ethik und der Regulierung des „Internet der Dinge“ in China.
  • 2020: Im Vorfeld des ursprünglich als „27+1“ Gipfel geplanten EU-China Gipfels im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft veröffentlichte MERICS im September 2020 die Studie „Towards a ‚Principles First Approach‘ in Europe‘s China Policy“, um die strategische Neuausrichtung europäischer Chinapolitik analytisch zu untermauern. Unter anderem antizipieren die Autoren darin die Herausforderung für Deutschland, asymmetrische strategische Abhängigkeiten zu reduzieren und „safe interdependence“ mit China zu befördern. 
  • 2021: Daran anschließend publiziert MERICS gemeinsam mit der Europäischen Handelskammer eine Studie zu den Triebkräften, vielschichtigen Formen und Implikationen eines zunehmenden „Decoupling“ zwischen China, den USA und Europa.
  • 2021: Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Kommunistischen Partei Chinas im Juli 2021 analyiseren MERICS-Expert:innen in der Studie „The CCP's next century: expanding economic control, digital governance and national security“ prägende Trends der inneren Verfasstheit Chinas und arbeiten heraus, wie sich Parteistaatskontrolle in Chinas Wirtschafts- Digital- und Außenpolitik auswirkt und welche globale Ambitionen die Führung in Peking damit verbindet. Die Autor:innen warnen davor, dass die Führung in Peking sich zunehmend von der Außenwelt abschottet und – nach der wechselseitigen Sanktionierung der EU und China – Beziehungen mit der Außenwelt weiter unter der politischen Verhärtung in China leiden könnten.
  • 2022: Die MERICS-Studie „Beyond blocs: Global views on China and US-China relations” nimmt die wachsende internationale Bipolarität zum Anlass, um die Perspektiven weltweit führender Expert:innen zu dieser Entwicklung auch einem deutschen und europäischen Publikum näher zu bringen. Gerade für die Gestaltung deutscher Politik im Spannungsfeld zwischen den USA und China bleibt es zentral, die Nuancen, besondere nationale Ausgangslagen und Interessen auch von Drittstaaten im Blick zu behalten.

Im Sommer 2022, dem Jahr des 50-jährigen deutsch-chinesischen Jubiläums steht China nun nicht nur wirtschaftlich unter Druck – und das Verhältnis zwischen Deutschland und China auf dem Prüfstand. In Berlin werden Weichen für die Chinapolitik neu gestellt – ein Prozess, den MERICS mit unabhängiger, nüchterner und differenzierter Chinaanalyse begleitet.

„Getting China right“, die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Perspektive und Handlungsfähigkeit gegenüber China waren vielleicht nie wichtiger als heute. Auch in den nächsten Monaten und Jahren wird MERICS deshalb den Finger an den Puls Chinas legen. Mit einem im Herbst 2022 erscheinenden Szenarioprojekt zu „XI III“, loten Autor:innen den Möglichkeitsraum für Chinas Entwicklungspfad in der „dritten Amtszeit“ Xi Jinpings bis 2027 aus. Als wissenschaftlicher Koordinator eines mehrjährigen Horizon Europe Projekts und mit seinem neu aufgestellten Büro in Brüssel wird MERICS die vielleicht kritischste Phase der nächsten 50 Jahre deutsch-chinesischer Beziehungen weiterhin konstruktiv und kritisch mitgestalten.


Über den Autor



Mikko Huotari ist der Direktor des MERICS. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Chinas Außenpolitik, die chinesisch-europäischen Beziehungen sowie globales (wirtschaftspolitisches) Regieren und Wettbewerb. Er hat zahlreiche Beiträge zu Chinas Aufstieg als Finanzmacht, den Handels- und Investitionsbeziehungen zwischen China und Europa sowie den geopolitischen Veränderungen infolge von Chinas Aufstieg als globaler Sicherheitsakteur veröffentlicht.

Huotari studierte in Freiburg, Nanjing und Shanghai und promovierte an der Universität Freiburg. 2017/18 war er Gastwissenschaftler an der University of California, San Diego. Huotari wurde 2019 zum Mitglied des Deutsch-Chinesischen Dialogforums ernannt.