Dr. Michael Schaefer
50 Jahre Deutschland und China
50 Jahre sind eine lange Zeit im Leben eines Menschen, 50 Jahre in der Geschichte eines Landes dagegen nur ein Wimpernschlag. Aber die Entwicklung unserer bilateralen Beziehungen in diesen letzten 50 Jahren mutet an wie ein historischer Quantensprung.
Als unsere beiden Außenminister, Walter Scheel und Ji Pengfei, am 11. Oktober 1972 die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen beschlossen, war die Welt eine völlig andere.
Europa war mitten im Kalten Krieg, China auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution.
Das Reich der Mitte stand am Ende eines Jahrhunderts der Demütigung von außen und der Selbstzerstörung im Innern.
Deutschland war geteilt, die Bundesrepublik beschäftigt mit ihrem demokratischen Wiederaufbau nach den selbstverursachten Katastrophen zweier Weltkriege und einem traumatischen Holocaust.
International waren China wie Deutschland Außenseiter – China war gerade erst Vollmitglied der UNO geworden, Deutschland hatte noch Beobachterstatus.
Beide Länder waren geteilt: Peking verfolgte konsequent seine Ein-China-Politik; Bonn hatte die Hallstein-Doktrin ersetzt durch Willy Brandt’s Formel von zwei Staaten einer Nation in Deutschland, die füreinander kein Ausland sind.
Wenig sprach für eine positive Entwicklung der deutsch-chinesischen Beziehungen.
Doch die geopolitische Großwetterlage führte zu einem Paradigmenwechsel. Die Ostpolitik der Bundesregierung vom 4-Mächte-Abkommen über Berlin bis zum KSZE-Prozess sowie die Nixon-Kissinger-Initiative gegenüber Beijing brachten Bewegung in die festgefrorenen Beziehungen. Sie eröffneten auch Peking und Bonn einen vorsichtigen Neubeginn zweier Gesellschaften, die systemisch nicht unterschiedlicher hätten sein können.
Konvergierende Interessen waren natürlich die Wirtschaftsbeziehungen. Die Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaoping’s war entscheidender Auslöser für die Bereitschaft immer mehr deutscher und europäischer Unternehmen in den nächsten Jahrzehnten, das Wagnis China anzugehen. Aber was vor allem Respekt erzeugte, war die historisch präzedenzlose Leistung der chinesischen Regierung, hunderte von Millionen Menschen aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien, ihnen Bildung anzubieten und Chancen im dynamisch wachsenden Arbeitsmarkt.
Das war beeindruckend, auch wenn man dem chinesischen politischen System distanziert gegenüberstand. Tian’anmen hat den politischen Graben weiter vertieft, die wachsende Dynamik der sich entwickelnden Beziehungen aber nicht revidiert.
Ganz entscheidende Triebfeder für die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen wie des bilateralen Handelsaustauschs war die Aufnahme Chinas in die WTO 2001. Man kann ohne Zweifel sagen, dass keine zwei Volkswirtschaften so von der Welthandelsorganisation profitiert haben wie Deutschland und China. Ich möchte diese Tatsache unterstreichen, da sie bei der Überlegung, wie sich unsere künftigen Beziehungen weiter entwickeln sollten, eine gewichtige Rolle spielen kann und sollte.
Die positive Weiterentwicklung unserer Beziehungen seit der Jahrhundertwende war Ergebnis einer langen Reihe pragmatischer Entscheidungen, des Aufbaus vertrauensvoller persönlicher Beziehungen zwischen politisch Verantwortlichen auf beiden Seiten sowie der Initiative zahlloser Organisationen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Dabei wurden tiefgehende Differenzen – wie über den Schutz der Menschenrechte – nie ausgespart.
Als ich 2007 mein Amt als Botschafter in Peking antrat, war der Boden bereits bereitet für eine breite Zusammenarbeit in vielen Bereichen – ungeachtet der politischen Konfliktpunkte, die es natürlich weiter gab. Mein Einstand beispielsweise war beschwert durch Differenzen über den Empfang des Dalai Lama in Berlin, was meinen Einstieg in Peking eher zu einem Hürdenlauf machte als zu einem Blumenkorso unter Freunden.
Aber unsere bilateralen Beziehungen entwickelten sich exponentiell, sie gingen weit über den Wirtschaftsaustausch hinaus.
Natürlich profitieren tausende deutsche Unternehmen von dem gigantischen Markt in China; und chinesische Unternehmen profitieren immer noch vom signifikanten Know-how ihrer deutschen Partner. Es sind gegenseitige Abhängigkeiten entstanden, die uns zu den wichtigsten Handelspartnern in Asien und Europa gemacht haben. Gleichzeitig ist es eine Tatsache, dass sich diese beiderseitige Abhängigkeit mit zunehmender technologischer Eigenständigkeit der chinesischen Wirtschaft in eine zunehmend einseitige zu verändern beginnt. Dennoch bleibt der Wirtschaftsaustausch ein Spielfeld konvergierender Interessen.
Hunderte von Hochschulkooperationen haben bis heute zu enger Zusammenarbeit in zahllosen Forschungsbereichen geführt, die nicht nur im Interesse der chinesischen, sondern auch der deutschen Wissenschaft liegen.
Unsere dreijährige Veranstaltungsreihe „De zhong tong xing / Deutschland und China - Gemeinsam in Bewegung“, die in fünf chinesischen Provinzen Station machte und mit einem sehenswerten Pavillon auf der Weltexpo in Shanghai 2010 endete, thematisierte drängende Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen und bewies zum ersten Mal das große Potential urbaner Zusammenarbeit im Kampf gegen den Klimawandel.
Die großartige Ausstellung „Kunst der Aufklärung“ 2011/12 im neueröffneten National Museum of China am Tian’anmen-Platz, die von zehn thematischen Salons begleitet wurde, unterstrich auch das Potential eines kritischen Kulturaustauschs und eines offenen Diskurses über durchaus kontroverse gesellschaftliche Themen.
Diese Dichte des bilateralen Austauschs gipfelte in den Regierungskonsultationen, die seit 2011 im Zweijahresrhythmus auf höchster Ebene stattfinden. Der Weg zu einer umfassenden strategischen Partnerschaft, die BK’in Angela Merkel und Präsident Xi Jinping 2014 vereinbarten, war geebnet. Ungeachtet immer bestehender substantieller systemischer Unterschiede.
Zehn Jahre danach befinden wir uns in schwierigerem Fahrwasser.
Die neue chinesische Führung unter Xi Jinping hat eine stärker ausgeprägte ideologische und nationalistische Politik entwickelt. Nach innen wird dem Ziel der „Stabilität“ oberste Priorität eingeräumt; die repressiven Maßnahmen in Xinjiang und in Hongkong führen zu zunehmender Kritik im Ausland. Das gilt in noch größerem Maße für Äußerungen der chinesischen Führung, die Wiedervereinigung Taiwans mit China notfalls mit Gewalt zu vollenden. Sie werden als Drohung einer bevorstehenden Invasion der Insel interpretiert.
Die neue Bundesregierung hat die pragmatische, interessenorientierte und auf Dialog setzende Politik der Regierung Merkel durch eine stärker werteorientierte Politik ergänzt. Sie sieht, wie die EU, China als Partner und Wettbewerber, aber auch als systemischen Rivalen. Das Gewicht im deutschen Diskurs verschiebt sich indes immer mehr in Richtung des dritten Pfeilers. Im Fahrwasser des sich zuspitzenden geopolitischen Konflikts zwischen USA und China droht auch dem deutsch-chinesischen Verhältnis eine politische Eiszeit.
Einige kurze Gedanken dazu.
Erstens:
Der wirtschaftliche und politische Aufstieg Chinas ist einer der Megatrends unserer Zeit. Dieser Trend ist nicht zu revidieren – weder durch Eindämmung noch durch Entkopplung. Das gilt für beide Seiten. Ungeachtet aller ideologischen Gegensätze müssen Amerika, Europa und China miteinander koexistieren und kooperieren.
Zweitens:
China und Deutschland, China und Europa, brauchen einander. Der Kampf gegen den Klimawandel ist die vorrangigste Aufgabe unserer Völker. Wir spüren das in diesem Sommer ganz besonders. Er kann nur gemeinsam gewonnen werden. Opfer werden sonst unsere Kinder und Enkel sein, egal ob sie in Shenzhen, München oder Madrid leben. Wir müssen diese Verantwortung ungeachtet aller ideologischen Unterschiede wahrnehmen. Das gilt in ähnlicher Weise für den globalen Kampf gegen den Hunger und – wie Covid-19 uns dramatisch vor Augen geführt hat – die Bekämpfung weltweiter Pandemien.
Drittens:
Natürlich sind unsere Wirtschaftsunternehmen Konkurrenten. China ist nicht mehr die verlängerte Werkbank der Welt, es ist in wichtigen Technologien Innovations-treiber und Weltmarktführer. Umso wichtiger sind für beide Seiten Augenhöhe, Fairness und ein level playing field.
Das erfordert ein funktionsfähiges regelbasiertes globales System, das für China, Europa und alle anderen Wirtschaftsakteure verbindlich ist. Es liegt in unserem beiderseitigen Interesse, die Welthandelsorganisation den Anforderungen des digitalen Zeitalters anzupassen.
Viertens:
Die Währung internationaler Beziehungen ist Vertrauen. Dieses Vertrauen ist in den letzten Jahren stark gesunken, das gegenseitige Misstrauen ist größer geworden. Europa sieht China zunehmend als repressive Hegemonialmacht, China Europa als schwachen amerikanischen Vasallen. Beide Perzeptionen reflektieren die schwindende Bereitschaft zur Differenzierung. Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist seit dem russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine noch größer geworden.
Fünftens:
Wir müssen uns mit den Ursachen für das schwindende Vertrauen auseinandersetzen.
China und Europa waren schon bei Aufnahme unserer diplomatischen Beziehungen systemische Rivalen. Der Unterschied zu damals besteht darin, dass China inzwischen ein globaler Akteur geworden ist und seine geoökonomischen und geopolitischen Interessen proaktiv geltend macht. Das ist neu und für viele irritierend.
Sechstens:
Die Erwartung vieler Europäer, Handel und Marktwirtschaft würden zum Wandel des politischen Systems in China führen, war und bleibt naiv.
Es ist natürlich Sache der Chinesen, zu entscheiden, in welchem politischen System sie leben wollen. Die Geschichte lehrt: Solange die chinesische Führung von den Menschen als benevolent perzipiert wird, erfreut sie sich weitgehender Handlungsfreiheit. Geht der informelle Gesellschaftsvertrag – Stabilität vs. Partizipation am Wohlstand – nicht mehr auf, steht die Legitimität der Regierung auf dem Prüfstand. Das gilt auch für die Versagung individueller Freiheiten zugunsten der Stabilität der Gesellschaft.
Siebtens:
Peking muss dagegen verstehen, dass individuelle Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit unveräußerliche Pfeiler des europäischen Selbstverständnisses sind. Sie sind ein Ergebnis unserer jüngeren Geschichte; sie sind kein Vorwand, um China zu desavouieren.
Europa wird weiter schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen öffentlich kritisieren, wo immer sie stattfinden. Auch in China. Insbesondere bei der Unterdrückung von Minderheiten. Allerdings darf es dabei keine doppelten Standards geben.
Achtens und letztens:
Der sich intensivierende ideologische Konflikt darf nicht zu einem neuen Kalten Krieg führen – die Weichen dahin sind indes für manche schon gestellt. Die Konfrontation zwischen liberalen Demokratien und Autokratien ist für sie bereits eine Tatsache – auf beiden Seiten.
Ich halte diese Entwicklung für sehr besorgniserregend.
China und Europa sollten ein gemeinsames Interesse haben, Verfahren zu entwickeln, um trotz der Differenzen unserer politischen Systeme Interessenkonvergenzen zu identifizieren und zu nutzen. Wir sollten Dialogprozesse organisieren, um neue Wege in Richtung einer regelbasierten Globalisierung zu entwickeln, inklusive gemeinsamer strategischer Leitplanken. Dieser Dialog muss inklusiv sein und auf dem geltenden Völkerrecht aufbauen. China und Amerika müssen aktiver Teil dieses Transformationsprozesses sein.
Deutschland und China können und sollten in diesem Prozess zwischen Ländern mit unterschiedlichen politischen und Wertesystemen eine Vorreiterrolle spielen.
Das anzugehen wäre mein Wunsch zum 50. Jubiläum der deutsch-chinesischen Beziehungen.
Über den Autor
Dr. Michael Schaefer war 35 Jahre im Auswärtigen Dienst, zuletzt vertrat er die Bundesrepublik Deutschland von 2007 bis 2013 als Botschafter in der Volksrepub-lik China. Von 2013 bis 2020 war er Vorsitzender des Vorstands der BMW Foundation.
Seine Laufbahn im Auswärtigen Dienst ist geprägt von wichtigen Meilensteinen: In New York trug er auf seinem ersten Posten zum Zustandekommen der „Agenda für den Frieden“ von UN-Generalsekretär Kofi Annan bei. In Singapur förderte er mit einem innovativen Programm deutsche Wirtschaftsinteressen in Südostasien. Vier Jahre lang vertrat er in Genf die Bundesrepublik Deutschland in der Menschenrechtskommission. Anfang der 2000er Jahre lag sein beruflicher Schwerpunkt auf Südosteuropa: Unmittelbar nach dem Kosovokrieg setzte er sich als Leiter des Sonderstabs Westlicher Balkan für den demokratischen Wandel und den Wiederaufbau in der krisengeschüttelten Region ein. Unter dem ehemaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer verhandelte er bis 2007 als Politischer Direktor des Auswärtigen Amtes die Grundzüge des heutigen Iran-Nuklearabkommens.
Der Volljurist promovierte am Max-Planck-Institut für Völkerrecht in Heidelberg und erhielt eine Ehrenprofessur durch die China University for Political Science and Law.