Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Dr. Christine Althauser



China – 50 Jahre nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen und die große Frage, wie mit China umgehen. Braucht es eine China-Strategie?

50 Jahre sind eine lange Zeit. Oder doch nicht? Ein Wimpernschlag der Geschichte, mehr nicht; altehrwürdige chinesische Denker würden dies sicherlich so sehen. Blickt man zurück auf die Zeit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China an jenem 11. Oktober 1972, so hat sich zwischenzeitlich vieles getan, vieles verändert – innerhalb der beiden Gesellschaften wie auch zwischen den beiden Staaten. Und auch die Welt drumherum scheint derzeit ziemlich aus den Fugen geraten.

Was mich persönlich an der Auseinandersetzung mit China von Beginn an faszinierte, war das Andere und Fremde. Vor 50 Jahren, und in diese Zeit fällt der Beginn meiner Beschäftigung mit China, war über das Land wenig bekannt. Mich interessierten in erster Linie die Geschichte und die Kultur (darunter vor allem die Malerei), diese wundersame Sprache und die geheimnisvolle Schrift. Falscher Ansatz, so würde ich das aus heutiger Sicht benennen! Zuviel Verwunschenes, zu wenig Alltag. Zu viel an Möglichkeiten, irgendetwas in „China“ hineinzuinterpretieren, was nur in unserer eigenen Vorstellung da ist. Wie soll ich den ungeheuerlichen Pragmatismus verstehen, der mir in China immer wieder begegnete, das selbstsichere Anpacken in allen Lebenslagen? Keine Überhöhung, Alltag.

Erstes Ergebnis (oder besser „Einsicht?“): China hat viele Gesichter. Geheimnisvoll, fremd, ja exotisch – und dann doch wieder unfassbar geerdet, pragmatisch, zielgerichtet, den eigenen Nutzen betonend. Asymmetrien, Widersprüche, Gegensätze in der Wahrnehmung. Wie gehe ich damit um? Lasse ich diese verwirrende Vielfalt von Eindrücken nebeneinander bestehen oder versuche ich, sie in eine logische Reihe zu bringen, die das Begreifen einfacher macht?

Man kann natürlich immer sagen (und nie ist es verkehrt!), dass China ein riesiges Land ist, eher Kontinent denn ein Land. Viele Völkerschaften, wenn auch mit klarer Dominanz der Han. Riesige Gebiete, die sich über Tausende von Kilometern ausbreiten. Heilongjiang (im hohen Norden) und die Halbinsel Hainan (im Süden, auf der Höhe von Thailand) – was haben sie gemeinsam? Nicht das Essen, nicht die Sprache (zumindest nicht die gesprochene), nicht das, was man Alltag nennen könnte. Und doch China. Dem China-Reisenden, egal in welcher Funktion er unterwegs ist – sei es als Politiker, als Diplomat, Journalist, „business man“ – allen steht es gut zu Gesicht, ein gerüttelt Maß an Wissen mitzubringen. Die Chinesen, die sich mit Deutschland befassen, sprechen zumeist hervorragend unsere Sprache, sie kennen sich aus in Geschichte und Kultur. Umgekehrt? Nicht die Ausnahme, aber doch seltener. Wie oft (auch bei den Aufnahmetests in den deutschen diplomatischen Dienst Mitte der 80er Jahre) wurde ich gefragt, wie ich denn auf die ‚verrückte Idee‘ gekommen sei, Slawistik und Sinologie zu studieren? Bis heute verstehe ich die Frage nicht, für verrückt hielt ich die Wahl nie. Eher für logisch, vorausdenkend (und niemals habe ich übrigens diese Wahl bereut).

Zweite Einsicht: China ist riesig, von der Bevölkerungszahl her (noch) das größte Land auf Erden, verwirrend in seiner Vielfalt. Was fangen wir damit an? Was macht die von Territorium und Bevölkerungszahl her bescheidene kleine Bundesrepublik, der weniger als zwei Jahrzehnte nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu China das unerhörte Glück der Wiederherstellung der deutschen Einheit gelang, mit dem Riesenpartner in Fernost? Die Bundesrepublik, die bis heute nach einem trittsicheren Auftreten auf internationaler Bühne sucht. Die Übernahme einer größeren außenpolitischen Verantwortung ist kein neues Mantra im Gefolge der Zeitenwende durch den Überfall der Russländischen Föderation auf den Nachbarstaat Ukraine am 24. Februar 2022. Die Debatten über die gewachsene Rolle Deutschlands auf internationalem Parkett wurden bereits in den 90er Jahren geführt; auch die Ausstattung der Bundeswehr, auch die Frage eines erweiterten Sicherheitsbegriffes – alles bekannt. Ich erwähne dies, weil auch die Beziehungen zu China davon tangiert sind. Wie gehen wir mit diesem Koloss um? Ein China, das seit 1949 unter Führung der kommunistischen Partei steht (und die Partei mit ihren 92 Millionen Mitgliedern ist die alles beherrschende Macht im Lande), ein China, das sich aber ständig häutet und unablässig verändert. Ein China, das uns heute als außenpolitischer globaler Player selbstsicher und sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnend gegenübertritt.

Dritte Bemerkung: Brauchen wir vielleicht eine (neue) China-Strategie? Ja, ich meine wohl. Wie auch immer wir das Konstrukt nennen – Plan, Konzept, Strategie oder auch schlicht „Umgang“ mit China. Ich erinnere mich, dies sei nebenbei bemerkt, an die oft amüsiert hochgezogenen Augenbrauen ausländischer Gesprächspartner, wenn die Deutschen nach einem Konzept suchen; wahlweise Gesamtkonzept, noch besser umfassendes Gesamtkonzept, gesteigert zum strategisch umfassenden Gesamtkonzept. Weiterungen immer noch möglich. Spaß beiseite: Wir brauchen einen durchdachten Umgang mit China, so etwas wie einen erweiterten China-Bezug, der nicht allein die wirtschaftlichen Beziehungen (und auch die daraus folgenden – wechselseitigen – Abhängigkeiten) in Rechnung stellt, sondern der das ganze Bündel politischer, rechtlicher, kultureller Fragen mitdenkt. Immer eingedenk der schlichten Wahrheit, dass es nicht die Geoökonomie ist, die die Welt bewegt, sondern die Geopolitik. Ein 50. Jahrestag wäre eine gute Gelegenheit zum Vermessen der bilateralen Beziehungen. Wo stehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung vom Herbst 2021 stehen einige Anstriche, mehr als jemals zuvor, zum Umgang mit China. Bislang ist wenig an inhaltlicher Auffüllung zu entdecken – natürlich, der 24. Februar und die russische Aggression überdecken alles und bestimmen das Geschehen. Gleichwohl – Warten ist keine Strategie.

Welche Elemente sollte eine Chinastrategie umfassen? Sicher die Tatsache, dass China ein globaler Akteur ist, der seinen Einfluss wahrnimmt. Ein Umgehen ist keine Option, ein gutes Umgehen ist angesagt. Und nur in Absprache mit den EU-Partnern, wie in besagtem Koalitionsvertrag vorgezeichnet. Die in einem EU Kommissionspapier vom Frühjahr 2019 (also vor der Corona-Pandemie) vorgegebene Trias von China als „Partner, Konkurrent und strategischer Rivale“ ist ein wichtiger erster Schritt, allein aber ungenügend. Wo genau sind die Schnittstellen, wo die sich überlappenden Flächen und wo die Bruchkanten? Der selbstbewusste Verweis auf das eigene Wertesystem in unseren Ländern, mit Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte als Grundlinie, ist die Richtschnur; Abschied sollte man nehmen von der Hoffnung, China von außen ändern zu können und auf die eigenen Maximen und grundlegenden Politikvorstellungen einschwören zu können. Das wird, rebus sic stantibus, nicht gelingen. China zeigt beeindruckende Modernisierung ohne Demokratisierung. Allerdings ist auch im China der Jetzt-Zeit der Krisenmodus zur Normalität geworden, blickt man etwa auf die Probleme in der Wirtschaft und die Auseinandersetzungen um die Corona-Politik.

Ein weiteres Stichwort zu unseren „Hausaufgaben“ ist Chinakompetenz. Sie ist vorhanden, sollte jedoch besser gebündelt und strategischer eingesetzt werden. Momentan droht ein „Austrocknen“, zu wenig Austausch, zu wenig Berührungspunkte nicht nur zwischen den politischen Ebenen sondern auch im zwischen – und zivilgesellschaftlichen Bereich. Die Pandemie, die „im Westen“ anders angegangen wird als in China, darf nicht der Vorwand sein, um Grenzen wieder hochzuziehen und Austausch zu hindern oder gar zu verhindern.

Lassen Sie mich zum biographischen Anfang meiner Beschäftigung mit China zurückkommen. Wie gesagt, ich verstand nie, weshalb ich mich für das Studienfach Sinologie erklären sollte. Weshalb so ein exotisches Studienfach? Für mich lag es auf der Hand. Mir scheint es heute, mehr denn je, normal und zwingend, sich mit dem Land auseinanderzusetzen. Wenn schon nicht aus Faszination und Neugierde, so doch zumindest aus eigener Notwendigkeit und aus eigenen Interessen heraus. Der 50. Jahrestag ist ein guter Bezugspunkt, das Gelände zu vermessen. Wir sollten die Chance nutzen und die (schwierigen, komplexen, widersprüchlichen) Beziehungen zur Weltmacht China in den Kontext Zeitenwende einbeziehen und strategisch weiterdenken, dabei auch Felder identifizieren (Klima, Umweltschutz, Gesundheit als Beispiele), wo gemeinsame Anstrengungen anstehen. Die Chinastrategie der Bundesregierung soll im Frühjahr 2023, so der gegenwärtige Zeitplan, vorgestellt werden. Wir sind gespannt.


Über die Autorin




Gebürtig aus Lahr - Baden, Studium der Politologie, Slawistik, Sinologie in Heidelberg. Auslandsstudien in Moskau und Taiwan. Promotion 1997 (Uni. Heidelberg) mit einer Arbeit zu Russland - "Russlands Weg in den Europarat"). Diplomatische Laufbahn im deutschen Auswärtigen Dienst 1985 - 2021, dabei mehrfach in China "auf Posten", so 1987 bis 1990 in Peking. Später deutsche Botschafterin in Nordmazedonien (2014 bis 2017), Generalkonsulin in Shanghai (2017 bis 2021).

Seit Mitte 2021 zurück in Deutschland, wohnhaft in Freiburg. Weiterhin tätig im Bereich Internationale Beziehungen, vorrangig zu China, Russland und Osteuropa sowie Fragen der europäischen Einigung.

Mitglied im OSZE / ZIF - Pool zu Wahlbeobachtung (so in Georgien im Herbst 2021, in Serbien Frühjahr 2022). Im Auswärtigen Amt als Programmdirektorin internationale      Diplomatenausbildung tätig. Beirätin im CNBW (China Netzwerk Baden-Württemberg). Seit Mai 2022 im Vorstand Alumni Verein Universität Freiburg. Stellvertretende Vorsitzende in der West-Ost-Gesellschaft Südbaden seit September 2022.