Annette Schavan
Respekt, Neugierde und Skepsis - Gedanken zu 50 Jahren Diplomatischer Beziehungenzwischen Deutschland und China
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„Mit ehrfürchtigem Respekt habe ich in China von jeher die einzige Weltkultur gesehen, die sich über Jahrtausende hinweg bis in die Gegenwart kontinuierlich entfaltet und bewahrt hat.“ 1) So beschreibt Helmut Schmidt vor 35 Jahren seine Beziehung zu China. Er gehört zu den Vätern der Aufnahme Diplomatischer Beziehungen Deutschlands mit China. Als Verteidigungsminister wurde ihm 1971 bei einer Reise nach Asien und in den Pazifischen Raum klar, dass China für Europa bedeutsam sein werde und politische Beachtung geboten sei. Er überzeugte den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt davon, dass die Aufnahme Diplomatischer Beziehungen mit dem Land wichtig sei. 1972 wurden die Beziehungen aufgenommen - mitten in der Zeit der Kulturrevolution.
Der Beginn lag also in einer diplomatisch anspruchsvollen Zeit. Die Nachrichten aus dem China der Kulturrevolution waren damals irritierend. Dennoch wurde gewagt, was sich in den folgenden 50 Jahren als eine oft inspirierende, immer wieder auch hoch komplizierte und doch überaus bedeutsame Beziehung erweisen sollte.
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Große Wirtschaftsdelegationen gehören zum Bild der Reisen deutscher Bundeskanzler und der Bundeskanzlerin. In China galt und gilt besonders, dass der Chef/die Chefin einer Bundesregierung der größten Volkswirtschaft Europas Türen öffnen soll. Das Drehbuch einer solchen Reise ist entsprechend geschrieben: Gesprächsrunden im Kreis der Delegation mit Kanzler/Kanzlerin, um die Wunschzettel vorzustellen, die danach in den politischen Begegnungen eingebracht werden. Lange vor einer Reise sind auf den Arbeitsebenen die Problemkreise diskutiert worden. Bei festlichen Begegnungen treffen Delegationen aus China und Deutschland zusammen, werden Vereinbarungen unterschrieben und neue Projekte auf den Weg gebracht. So ist das zigmal gewesen. Protokolle aller Kanzlerreisen in den 50 Jahren, in denen nachzulesen ist, was wann vereinbart wurde und welche Prioritäten es gab, welche Themen besprochen wurden und wie der Umgang mit Konflikten und Konfliktthemen gewesen ist, können heute helfen, die aktuelle Situation einzuordnen. Deutsche Unternehmen planen auch jetzt große Investitionen in China. Ihre Zukunftsstrategien werden nicht ohne China entworfen; zu groß ist der chinesische Markt, um ihn zu ignorieren.
Das wird sich auch in der neuen Dekade der diplomatischen Beziehungen nicht ändern. Vom Engagement der deutschen Unternehmen profitiert Deutschland und profitiert auch China.
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Das Eingangszitat beschreibt den Respekt von Helmut Schmidt vor der 5000jährigen chinesischen Kultur. Er hat sich mit kaum einem anderen Land so beschäftigt wie mit China. Helmut Kohl teilte sein Interesse für China, seine Geschichte und Kultur. Auch Angela Merkel sah in China weit mehr als einen Wirtschaftspartner. Sie hat zahlreiche Provinzen in China besucht. Sie hat zu Menschenrechtsfragen nicht geschwiegen. Sie empfing im Jahre 2007 den Dalai Lama im Kanzleramt. Gerhard Schröder attackierte sie dafür während einer Reise in China - ein ungewöhnlicher Vorgang, den Angela Merkel mit dem Hinweis beantwortete, dass dies den Respekt Chinas vor Deutschland sicher nicht steigere. 2)
Interessante Reisen, Reden und kulturelle Akzente in den Amtszeiten von Schmidt, Kohl und Merkel im Blick auf China zeigen, dass es in diesen Jahren weit über Wirtschaftsbeziehungen hinausging. Bundespräsident Johannes Rau brachte im Jahre 2003 in einer Rede an der Universität Nanjing eine klare Position zum Ausdruck, als er sagte: „Die Pflege fester wirtschaftlicher Beziehungen und das Eintreten für Menschenrechte schließen sich nicht aus. (…) Kritik am Stand der Menschenrechte in anderen Staaten ist (…) keine Einmischung in deren innere Angelegenheiten. … Man darf das Eintreten für Menschenrechte nicht (…) als ein spezifisches ‚westliches Anliegen‘ missverstehen.“ 3)
Damit ist eine Erfahrung angesprochen, die in Gesprächen in China und mit chinesischen Gesprächspartnern einen Dialog zunehmend erschwert: Immer mehr Themen werden in China als innere Angelegenheit bezeichnet und jede Stellungnahme dazu verweigert. Dialogforen leben davon, dass sich die Partner auch kritischen Fragen stellen. Ansonsten erübrigt sich der Dialog.
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Im Jahre 1978 wurde ein Regierungsabkommen über die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China unterschrieben. Das war die Basis für eine erfolgreiche Geschichte, zu der zahlreiche Hochschul- und Forschungskooperationen ebenso gehören wie die Förderung der Mobilität von Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Projekte über gemeinsam identifizierte Forschungsthemen wurden vereinbart, Plattformen eingerichtet und ein reger Austausch über berufliche Bildung geführt. Mehr und mehr stand im Fokus, Kooperationen besonders zu den Forschungsthemen zu vereinbaren, die für die Lösung der großen Zukunftsprobleme relevant sind. Im Deutsch-Chinesischen Jahr der Wissenschaft und Bildung 2009/2010 unter dem Motto „Zusammen auf dem Weg des Wissens“ war eine Aufbruchsstimmung zu spüren. Auf der Deutsch-Chinesischen Promenade in Shenyang, im Nordosten Chinas präsentierte das BMBF im Juni 2009 exzellente Forschungsprojekte zum Thema „Nachhaltige Stadtentwicklung“. Auf der Expo in Shanghai, ein Jahr später, waren Themen zukünftiger Stadtentwicklung prominent platziert. Mein damaliger Kollege, der chinesische Forschungsminister WAN Gang besuchte im Sommer 2009 Deutschland, nahm in Lindau am Nobelpreisträgertreffen teil, und wir diskutierten dort mit jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus China und Deutschland. Es wurde ein Abkommen unterzeichnet, so dass in der Folge regelmäßig Gäste aus China teilnehmen konnten. Das sind wenige Beispiele für intensive Wissenschaftsbeziehungen, die zu einer tragenden Säule der 2011 begründeten „Privilegierten Partnerschaft“ der beiden Länder wurden.
Klimaschutz, Biodiversität, Armut, Hunger, Demographie, Stadtentwicklung - diese und andere Themen, die in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen werden, machen Kooperationen in Wissenschaft, Forschung und Technologie international noch wichtiger. Wie kann das gelingen? Wie lassen sich Bedingungen schaffen, die helfen, Enttäuschungen, Verärgerungen und Probleme der letzten Jahre zu überwinden und in Deutschland neues Vertrauen in die Zusammenarbeit aufzubauen?
Wissenschaftskooperationen entstehen nicht jenseits der allgemeinen Beziehungen in Politik und Diplomatie. Manchmal können sie allerdings Pioniere sein. Dazu braucht es Vertrauen und Klarheit über die Bedingungen der Zusammenarbeit.
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Bedrückend sind die Nachrichten vom Umgang mit den Religionen in China. Von Religionsfreiheit kann keine Rede sein. Manches wurde in der Zeit der Öffnung geduldet. Großes Einfühlungsvermögen war notwendig, um kleine Fortschritte zu erzielen, von denen der frühere Bischof von Shanghai, der Jesuit Aloysius Jin (*1916, +2013) eindrucksvoll erzählen konnte. Er saß 27 Jahre im Gefängnis und wurde kurz danach zum Bischof von Shanghai ernannt. Er war ein Zeitzeuge für die Entwicklungen und das Leben der Christen in Shanghai über 75 Jahre. 4)
Seit der Jahrtausendwende bemüht sich der Vatikan um Gespräche mit China. Ein Abkommen, das vor allem die Bestellung von Bischöfen regeln soll, ist 2018 unterzeichnet worden und soll nun um weitere Jahre verlängert werden. Es kann der Weltkirche nicht gleichgültig sein, wie es den Christen in China geht. So wird dieses Abkommen jenen gegenüber begründet, die daran Kritik üben. Papst Benedikt hatte den Vertrag vorgeschlagen und Papst Franziskus hat jüngst gegenüber Journalisten gesagt, im Gespräch mit China müsse im Zeitraum eines Jahrhunderts gedacht werden, nicht in Jahrzehnten. China beantwortet die Bemühungen eher schroff. Die Umerziehung der Uiguren wird als Maßnahme der Terrorprävention bezeichnet. Das Wirken christlicher Orden immer mehr eingeschränkt. Die Devise im Umgang mit Religionen lautet: Sie müssen chinesisch sein.
Religionsfreiheit ist ein universal gültiges Menschenrecht. Seine Achtung und Missachtung sagt viel über Gesellschaften und deren Regierungen. Möglicherweise liegt im Gespräch über Religionen und Religionsfreiheit ein Schlüssel für künftige Dialoge.
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Der Ausblick auf die nächste Dekade der diplomatischen Beziehungen lässt erkennen, dass Weichen gestellt werden müssen. Bisherige Abkommen haben Früchte gebracht. Unübersehbar ist aber auch, dass an die Stelle von wechselseitiger Neugierde viel Skepsis getreten ist. „Der Westen“ gilt mehr und mehr in China als Gefahrenquelle. Das Land zeigt sich verschlossen wie lange nicht mehr. Die Pandemie hat, wie in vielen anderen Feldern auch, Schwachstellen im Umgang miteinander sichtbar werden lassen. Deutschland und Europa brauchen einen langen Atem, um selbstbewusst die Beziehungen mit China zu gestalten. Ebenso bedeutsam ist der strategische Ausbau der Chinakompetenz in Europa. In China ist mehr Wissen über Deutschland und Europa als umgekehrt. Daran muss gearbeitet werden. Es müssen neue Chancen und Wege des Dialogs erkundet werden. Es braucht Vereinbarungen über die Art und Weise, wie Dialogforen künftig arbeiten können. Wie wird die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit fortgesetzt und erweitert im Blick auf die bereits genannten Zukunftsthemen? Beziehungen und Vertrauen sind schnell ruiniert. Der Aufbau braucht dann viel Zeit. China muss bald Zeichen setzen, wie es sich Diplomatie und Völkerverständigung in Zukunft vorstellt.
Deutschland braucht eine Strategie, aus der ersichtlich wird, welche Haltungen, Interessen und Werte für die kommende Dekade leitend sein werden. 5)
1) Helmut Schmidt, Menschen und Mächte, Berlin 1987, S. 360, zitiert nach Matthias Naß, Drachentanz. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet, München 2021, 199.
Diesem Buch verdanke ich auch die Informationen über die Vorgeschichte und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen.
2) Naß, 203
3) Naß, 202
4) Ich hatte die Gelegenheit, den Bischof im Jahre 2008 in Shanghai zu besuchen. In den Gesprächen mit ihm habe ich so viel über China lernen können wie in wenigen Begegnungen.
5) Die Bundesregierung hat angekündigt, im Frühjahr 2023 eine integrierte Chinastrategie vorzulegen.